Das Dornenhaus
Diesen Scheißkerl. Ich werde trotzdem gehen. Ich werde hineinspazieren und sie vor seinen Augen mitnehmen. Er kann uns jetzt nicht mehr davon abhalten.«
»Er wird dich erschießen und hinterher sagen, er hätte sich nur verteidigt. Die Polizei weiß, dass du neulich Abend schon mal im Haus warst! O Jago, bitte …«
Jago stieß mit dem Fuß die Haustür auf, hockte sich auf eine Treppenstufe und begann, seine Stiefel zuzuschnüren. Inzwischen wurde ich von heftigem Schluchzen geschüttelt. Ich war völlig außer mir, verzweifelt.
»Jago, du kannst jetzt nicht gehen. Hör mir zu! Ellen will dich nicht sehen!«
»Du lügst.«
»Nein, tue ich nicht.« Ich beruhigte mich wieder ein bisschen, zitterte aber noch immer. Ich zog die Nase hoch. »Sie lässt dir ausrichten, dass sie dich nicht sehen will.«
»Wovon redest du?« Jago runzelte die Stirn, hörte aber auf, die Schnürsenkel zu binden. Ich schöpfte Hoffnung, dass er doch noch zur Vernunft käme. Ich musste jetzt genau überlegen, was ich zu ihm sagte, dann hatte ich vielleicht eine Chance, das Schlimmste zu verhindern. »Das gibt sie doch nur vor, weil sie Angst vor ihrem Vater hat.«
»Nein, sie will dich überhaupt nicht mehr sehen«, sagte ich. »Es ist aus zwischen euch. Aus, verstehst du.«
Jago lachte. »Warum sollte sie mir etwas so Bedeutendes über dich ausrichten lassen, anstatt es mir selbst zu sagen? Hm? Sie liebt mich, Hannah. Sie liebt mich! Sie würde es mir selbst sagen, wenn es die Wahrheit wäre.«
Ich weiß nicht mehr, was in diesem Moment in mir vorging. Ich kann es mir nicht mehr erklären, irgendwie musste sich meine Angst in Wut verwandelt haben. Die ganze Eifersucht, die sich all die Jahre über in mir aufgestaut hatte, kam plötzlich an die Oberfläche. Zuerst waren da nur Jago und ich gewesen, dann war Ellen hinzugekommen und wir waren zu dritt gewesen, aber seit einigen Jahren gab es nur noch Ellen und Jago, und ich, ich durfte vom Rand aus zuschauen. Ich hatte ihnen als Botin gedient, ihnen geholfen, war ihre Vertraute gewesen, hatte mich um sie beide gekümmert, ihre Spuren verwischt, für sie gelogen und mir stundenlang ihre Sorgen und Klagen angehört. Ellen und Jago hatten mich um meine Teenagerjahre, die besten Jahre meines Lebens, gebracht, und nachdem ich all das für sie getan hatte, bekam ich jetzt von meinem Bruder zu hören, dass ich für Ellen so unbedeutend war, dass sie mir nichts Wichtiges anvertrauen würde, ehe sie es nicht ihm selbst gesagt hatte.
Noch nie war ich so aufgebracht gewesen. Eine ungekannte Wut brannte in mir. Sie hatte einen reinigenden Effekt, und dieses Gefühl war so kraftvoll, dass es beinahe schön war. Danach war alles ganz einfach. Seltsamerweise ließ mich die Wut ruhig werden, und plötzlich wusste ich, was ich sagen musste.
»Sie hat es sich anders überlegt. Sie will nicht mehr mit dir fortgehen«, behauptete ich. »Sie hat heute Morgen ihre Erbschaft bekommen, und dadurch hat sich für sie alles geändert. Sie ist sich klar geworden, dass sie nicht in einem schäbigen, kleinen Apartment in New York wohnen will. Das hat sie gesagt.«
Ich genoss es. Ich genoss es, ihm wehzutun. Obwohl ich, noch während ich die Worte sprach, um ihre unheilvolle Wirkung wusste, verursachten sie bei mir ein starkes und reinigendes Gefühl, befreiten sie mich von diesem schwelenden Groll in mir. Ich dachte – sofern ich in diesem Moment überhaupt rational denken konnte –, dass ich am nächsten Morgen, wenn sich alles beruhigt hätte und Jago nicht mehr in unmittelbarer Gefahr wäre, meine Lügen erklären würde.
Jago sah mich an und hielt inne. Nur wenige Sekunden, aber sie genügten mir, um zu erkennen, dass meine Worte die gewünschte Wirkung zeigten. Er war schon einmal verlassen worden. Zurückgewiesen worden. Seine Mutter war gestorben, und sein Vater hatte ihn im Stich gelassen, in der Obhut von Tante und Onkel, die grausam zu ihm gewesen waren. Mir wurde bewusst, dass Jago in seinem tiefsten Inneren immer gedacht hatte, er wäre nicht liebenswert, nicht gut genug, um von jemandem Liebe zu erfahren. Er glaubte selbst nicht wirklich, was er zuvor gesagt hatte, dass Ellen ihn liebte. Ich aber begriff in diesem Augenblick, dass Ellen ihn genauso liebte wie er sie. Und ich nutzte seine Verletzlichkeit aus, kostete sie aus.
»Sie könnte doch jeden Mann haben«, sagte ich. »Warum sollte sie ausgerechnet dich nehmen?«
»Nein.« Jago schüttelte den Kopf. »Ich glaube dir nicht.«
»Jago,
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