Das Dornenhaus
Salat, Kartoffeln, kaltem Braten, Obst, Essiggurken und Käse sowie Wein- und Wasserflaschen standen auf dem Tisch verteilt. Karla war am Ende ihrer Geschichte angelangt.
»Und so habe ich dieses prächtige Baby, dieses allerliebste Wesen, nach Deutschland mitgenommen«, sagte sie. »Meinen Freunden, Kollegen, meiner Familie und den Behörden sagte ich, es wäre mein Kind, es wäre vor dem erwarteten Termin in England zur Welt gekommen. Ich erfand eine Liebesaffäre, einen verheirateten Geliebten, der nichts von meiner Schwangerschaft wusste. Und siehe da, meine Geschichte funktionierte auf wundersame Weise, man glaubte mir. Es war die einzige Möglichkeit zu verhindern, dass Peter das Kind in die Finger bekam.«
»Karla ist meine offizielle und rechtmäßige Mutter«, sagte Kirsten. »Und ich bin stolz und froh, ihre Tochter zu sein. Aber als ich alt genug war, hat sie mir die Wahrheit erzählt. Das ganze Täuschungsmanöver diente nur zu meinem Schutz.«
Die beiden Frauen lächelten sich zu. Sie stießen mit ihren Weingläsern an und sahen sich in die Augen, während sie tranken. Ellen hatte für ihre Tochter das Allerbeste getan, dachte ich. Sie hatte die Weichen gestellt, damit sie die bestmögliche Kindheit und Erziehung bekam, an einem sicheren Ort, weit weg von Peter, wo sie ein Höchstmaß an Liebe und Aufmerksamkeit erfuhr.
»Aber gewiss hat es doch eine gerichtsmedizinische Untersuchung gegeben, bei der sich herausstellte, dass Ellen … na ja … ein Kind geboren hatte«, sagte John. Er beugte sich schräg an mir vorbei zu dem Käsebrett, das am Tischrand stand, und schnitt sich ein Stück Käse ab.
Karla verscheuchte mit der Hand eine Motte und nickte.
»Man nahm an, dass das Kind ertrunken wäre, dass es bei Ellens Zusammenbruch ins Meer hinausgespült worden wäre. Das war die plausibelste Erklärung. Niemand kannte diesen Strand, wer sollte das Baby entdeckt und mitgenommen haben?«
Vor ihrer Rückkehr nach Hause machte Karla Mrs Todd ausfindig, nahm sie mit nach Deutschland und sorgte dafür, dass sie in einem kleinen, komfortablen Haus auf dem Schlossgelände ihren Ruhestand genießen konnte.
»Und Mr Brecht?«, fragte ich. »Was ist aus ihm geworden?«
»Wir haben ihn ebenfalls nach Deutschland zurückgeholt, wo er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Dort ist er noch immer.«
SECHSUNDSECHZIG
K arla bestand darauf, dass wir im Schloss übernachteten, wenigstens für eine Nacht, und ich war froh über ihr Angebot. Ein merkwürdiger Friede hatte mich überkommen. Und ich wollte dieses Gefühl der Nähe zu Ellen nicht schon wieder verlieren. Mir war, als wäre sie neben mir, und ihre Gegenwart war nicht länger bedrohlich, sondern besänftigend. Nun wusste ich die Wahrheit über ihren Tod, und die schreckliche Ungewissheit all dieser Jahre war vorbei. Ich hatte jetzt keine Angst mehr vor ihr. Endlich konnte ich um sie trauern.
Und dann war da Kirsten, die ihrer Mutter verblüffend ähnlich war, die genauso aussah wie Ellen im gleichen Alter. Die Ellens Gene in sich trug, die ihr Lächeln und den Ausdruck ihrer Augen geerbt hatte und die genau so mit einer Haarsträhne spielte, wie Ellen es immer getan hatte. Die genauso temperamentvoll war wie Ellen.
Die freundliche, offene Art der drei deutschen Frauen besänftigte und tröstete mich. Im Laufe des Abends erzählten sie mir Geschichten aus Kirstens Kindheit. Karla sagte, von klein auf habe sich ihr Showtalent gezeigt. Bei Schulaufführungen wollte sie immer die Hauptrolle spielen, sie genoss es, im Rampenlicht zu stehen. Kirsten stimmte in das Lachen ihrer Mutter ein. Sie legte den Kopf auf Karlas Schulter, und diese hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.
Es wurde viel gelacht.
John behauptete, er bereue es kein bisschen, diese Gelegenheit zum Networking mit den Kuratoren der besten Museen Europas zu verpassen, viel lieber verbringe er seine Zeit mit uns. Obwohl er nicht viel sprach, war ich froh, dass er bei mir war und Ellens Geschichte nun ebenfalls kannte. Gleich, was passierte, von nun an würden wir dieses Erlebnis teilen – den auf Schloss Marienburg verbrachten Abend, an dem wir den Rest von Ellen Brechts Geschichte erfuhren.
John schenkte mir immer wieder Wein nach, und ich trank, weil der Alkohol meinem Schmerz den Stachel nahm und meine Schuldgefühle betäubte. In manchen Momenten gelang es mir sogar, mir vorzustellen, Ellen säße bei uns. Ich meinte sogar aus dem Augenwinkel wahrzunehmen, wie sie stolz und
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