Das Drachentor
untersucht. »Hübsche Tätowierung«, bemerkte er trocken, ehe er die Wunde darüber zu nähen begann. Revyn stand es tapfer durch, doch er wagte nicht, die Nadel anzusehen. Anschließend wurde ein Verband umgelegt, man brachte ihm Kleider, gab ihm ein neues Schwert und führte ihn in die Speisehalle. Der Duft eines Abendessens und fröhlicher Lärm kamen ihm entgegen; über den lachenden Männerstimmen schwebten Flöten- und Trommelmusik und der schallende Gesang mehrerer Frauen. Nach der langen Stille fühlte Revyn sich davon schier überwältigt. Er wollte bloß etwas essen und sich ins Bett legen.
»REVYN!« Zwei Hände packten ihn ungestüm an den Schultern - es war Twit. Er hatte ein blaues Auge und einen Schnitt auf der linken Wange. Das Erste, was Revyn tat, war, ihm ins Gesicht zu schreien.
»Oh - entschuldige.« Rasch ließ Twit ihn los. »Wie in aller Namen bist du hergekommen? Wir dachten schon …«
»Revyn!« Capras fiel ihm um den Hals und riss ihn fast zu Boden. »Verflucht, du bist wirklich hier!«, lallte er. Capras’ Atem war so alkoholhaltig, dass Revyn ganz benebelt wurde.
»Was - was macht ihr denn hier?«, brachte er schließlich hervor.
»Wir haben gewonnen !« , rief Twit. Er hatte sich von irgendwo einen Becher geholt, schwenkte ihn in die Höhe und kippte ihn über dem offenen Mund aus, sodass ein guter Teil des Weins über sein Kinn lief. Mit geblähten Backen und Wein, der ihm aus den Mundwinkeln blubberte, sagte er: »Die Verletzten mussten zurückgebracht werden … Aber damit es nicht wie ein Trauerzug aussieht, sind ein paar von uns mitgekommen. Das Volk muss sehen, dass die Drachenkrieger gewonnen haben und auch nach der ersten Schlacht strahlen !«
»Ein Hoch auf die Drachenkrieger!«, schrie Capras, wobei er sich schwer auf Revyn stützen musste. Der Speisesaal zitterte vor Jubel, Becher wurden gehoben und unzählige Kehlen mit Wein gespült. Offensichtlich war das Trinkverbot aufgehoben worden. Die Speisehalle glich einer überfüllten Schänke. Seine Freunde zogen Revyn zu den Tischen, wo er sich setzen konnte.
»Und jetzt erzähl«, bat Twit. Er klang teilnahmsvoller, als Revyn ihm je zugetraut hätte. »Wo bist du gewesen? Und wie hast du es geschafft, so schnell hier zu sein? Du musst ja vor uns aufgebrochen sein!«
Revyn schilderte vage, wie er durch die Wälder geritten war, aber von Palagrins Führung - und dem Mädchen im Nebel - verriet er nichts. Twit nickte unentwegt und schien aufmerksamer denn je. »Dann hätten wir dich ja fast treffen müssen!«, rief er dazwischen. »Wir sind heute erst angekommen, ein paar Stunden vor dir.« Einen Augenblick lang biss er sich auf die Unterlippe. Dann sagte er leise: »Danke. Du hast mir das Leben gerettet … Danke, Mann.« Er drückte Revyn an sich, dann klopfte er ihm auf den Rücken und schenkte ihm einen Becher Wein ein.
Zögernd nahm Revyn den Becher an. »Wo ist Jurak?« »Er’s noch bei’n Legion«, lallte Capras. »S’ heißt … ihm geht’s komplett gut.«
Revyn atmete aus vor Erleichterung. Dann trank er einen Schluck und beobachtete die Frauen, die sich auf den Tischen versammelt hatten und lachend und klatschend zu singen begannen:
Orlando, Orlando, folge mir,
fürchte weder Wälder noch Getier!
Wehr dich nicht gegen Lachen und Singen,
ich werd dich zu den meinen bringen!
Dort sollst du tanzen und träumen mit Freuden,
und Tage und Nächte mit Muße vergeuden.
Orlando, Orlando, willige ein!
Es wird nicht zu deinem Schaden sein,
wenn du den heil’gen Ort erreichst,
und nimmermehr von hier entweichst.
Wie es Tradition bei dem Lied war, stimmten nun die Männer ein:
Orlando, Orlando, wage keinen Blick
in Elfenaugen - die brechen dir bloß das Genick!
Orlando, Orlando, ihre Welt ist Schein,
und wird dein dunkles Grab nur sein!
Twit hatte Revyn indessen einen Teller mit Gemüse und Hackbraten zugeschoben. Hungrig griff Revyn nach den Speisen und schlang alles so schnell hinunter, dass er das Kauen fast vergaß. Er schleckte sich gerade den Rest Soße vom Finger, da zog ihn Twit auch schon wieder auf die Füße.
»Wo willst du hin?«, fragte Revyn verwundert. Nun da er aufstand, merkte er erst, wie viel er gegessen hatte. Leichte Übelkeit überkam ihn.
Twit trat näher an ihn heran. Sein linkes Auge blitzte hell und unheimlich in dem dunkelblauen Bluterguss. »Du musst unbedingt was sehen. Wird dir bestimmt den Atem verschlagen.« Mit diesem Versprechen zog er ihn aus der Speisehalle.
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