Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
Vom Netzwerk:
mir nicht glaubt, dem kann ich zeigen, wie scharf sie schneidet.«
    Kein kampftüchtiger Myrdhaner blieb in den Dörfern zurück und am Abend des ersten Tages war ihre Infanterie um fünftausend Krieger gewachsen. Alasar bat seine Männer, den Dorf bewohnern ein paar Grundkenntnisse im Kampf beizubringen. Dann errichteten sie ihr Lager und die Nacht brachte alle Geschäftigkeit zum Erliegen. Die Hälfte des Heeres schlief unter freiem Himmel.
    Alasar träumte von den Höhlen. Die steinernen Wände pochten mit dem Herzschlag der wiedererwachten Toten. Er rannte, war auf der Flucht, stolperte, keuchte. Bilder wollten in ihm aufkommen; Bilder eines fest umschlungenen Paares, Bilder von Sterbenden; aber er ließ sie nicht zu, er verdrängte sie mit aller Kraft. Und dann sah er sie vor sich stehen, alt und zerfallen: Igola. Sie sah aus, als wäre sie hundert Jahre alt. Ihre grauen Haare standen wie Draht ab und ihr Gesicht war voller Falten.
    »Gib ihn zurück«, sagte Igola. »Gib ihn mir wieder!« Alasar stolperte zurück. Panik überkam ihn. Igola würde ihm Schlimmeres als den Tod antun. Er konnte nur nicht sagen, was.
    »Gib ihn her!« Ihre Arme streckten sich nach ihm aus. Alasar fuhr herum und versuchte, aus dem Traum auszubrechen.
    »Gib ihn zurück!«, schrie Igola. »Tivaaam!« Alasar fuhr auf. Sein Herz pochte schmerzhaft schnell. Ohne nachzudenken, stand er auf und torkelte aus dem Zelt. Es war tiefe Nacht. Keine einzige Fackel, kein Mond, kein Sternenlicht verliehen den Dingen Umrisse.
    »Tivam!« Seine Stimme klang rau, fast unwirklich. Er schluckte. »Tivam!« Er stolperte in eine Zeltplane und wich zurück. Irgendwo hinter dem Tuch glomm eine Kerze auf. Alasar tastete nach der Zeltöffnung und stieg hindurch.
    Tivam, der neben mehreren anderen Höhlenkindern geschlafen hatte, hielt die Kerze empor und starrte ihn überrascht an. »Was ist?«
    »Wo ist Igola? Wo ist deine Mutter?«
    Tivams Blick glitt zu Alasars Hand: Er hatte die Faust um seinen Dolch geschlossen. »Sie ist doch in den Höhlen geblieben. Glaub ich.«
    Alasar spürte, wie sein Herzschlag sich beruhigte. Langsam schaute er auf den Dolch in seiner Hand. Dann ließ er den Griff los. »Was hat sie zu dir gesagt, als wir gegangen sind?« Tivam antwortete nicht gleich. »Sag schon!«
    »Ich...«
    »Sag es!«
    »Warum denn?« Tivam verzog das Gesicht. »Sie hat nicht mit mir geredet, ich bin nicht Rahjel!«
    Schweigen fiel über sie. Alasar wünschte, er könnte etwas sagen, um das Echo seines Namens zu vertreiben, aber er wusste nichts. Das erste Mal seit dem Vorfall hatten sie ihn erwähnt. Das erste Mal dachten sie beide daran und wussten, dass der andere es auch tat.
    Alasar schluckte. »Schlaf jetzt.« Er drehte sich um und verließ das Zelt.
    Als er sich nach einigen Schritten noch einmal umdrehte, war das Licht der Kerze erloschen. Reglos stand er in der Finsternis.
     
    Das Heer reiste weiter nach Nordwesten und wuchs mit jedem Dorf, das ihm in die Quere kam. Wie ein gigantischer Wurm schob es sich weiter an die Stadt Kytena heran, Stück für Stück, und verschlang alles auf dem Weg. Nach drei Tagen folgten Alasar mehr als fünfundzwanzigtausend Männer und Frauen. Die wenigsten von ihnen hatten in ihrem Leben je etwas anderes als eine Schaufel oder eine Hacke in den Händen gehalten. Und die meisten waren unbewaffnet.
    In Kytena würde es genug Ausrüstung für alle geben - das versprach zumindest Jasicur, der Alasar als einziger General begleitete. Wie Jasicur erzählte, kam er ursprünglich aus Salkand und hatte sich von Morgwyn anheuern lassen, als der aus dem Exil geflohen war. Allein das Geld hatte ihn auf die Seite des myrdhanischen Königs gezogen. Jasicur kannte keine Treue - doch er erkannte die Mächtigen und seinen eigenen Vorteil. Alasar wusste, dass er ihm vertrauen konnte, solange Jasicur keinen besseren Verbündeten fand.
    Am Ende des dritten Tages erreichten sie Kytena. Die Stadt thronte stolz auf einem Hügel und streckte ihre Türme in den Himmel, als hätte sie sich auf die Zehenspitzen gestellt. Unterhalb des Hügels lagen ein See und ein breiter Fluss, der im glühenden Abendlicht funkelte und glitzerte wie ein Band aus Feuer. Als Alasar näher kam, sah er, dass seine Ufer mit den Leichen haradonischer Soldaten gesäumt waren.
    Steinerne Brücken führten über den Fluss zu den Toren Kytenas. Myrdhanische Soldaten saßen in den Wachtürmen, und als sie Alasar und die Krieger erkannten, ließen sie sie passieren.

Weitere Kostenlose Bücher