Das Drachentor
sie bereits die Rauchsäulen emporsteigen, denn die Stadt wurde belagert. Doch im Vergleich zu Isdad war Thebal nicht dafür gebaut, feindlichen Heeren standzuhalten; im ganzen Umkreis wütete eine zähe Schlacht und die Belagerungsmaschinen warfen Feuerbälle über die Mauern. Ein mächtiger Rammbock schlug gegen das Haupttor, dumpf und schwer wie der Hammer eines Gottes. Auch Drachenkrieger kreisten über Thebal und feuerten Pfeile ab.
Alasar versuchte gar nicht erst, das Heer zu verstecken. Er teilte seine Krieger in mehrere Gruppen auf und ließ sie die gesamte Region umschließen. Dann griffen sie an.
Die Haradonen waren zwischen den Stadtmauern und den neuen Angreifern gefangen, trotzdem war der Kampf alles andere als ein rascher Sieg. Die Feinde waren besser vorbereitet, als Alasar angenommen hatte, und überwanden ihre Überraschung sofort. Mitten im Kampf erklang ein zorniges Krachen, gefolgt von einer Welle aus Schreien und Rufen: Thebals Tore waren eingebrochen. Die Haradonen drangen in die Stadt ein - ob um anzugreifen oder um vor Alasars Kriegern zu flüchten, war schwer zu sagen. Als es dämmerte und neuer Schnee zu fallen begann, hatten die Myrdhaner die Schlacht um Thebal gewonnen.
Alasar wurde zwischen Rauch und Asche von den myrdhanischen Generälen empfangen. Sie glaubten, König Morgwyn habe ihn zu ihrer Rettung geschickt, und fragten, mit welchen Anweisungen er gekommen sei.
»König Morgwyn hat euch in eine Falle geschickt«, sagte Alasar. »Er hat nie geplant, echte Verstärkung nach Thebal zu senden. Wir sollten lediglich lange genug bestehen, um die Haradonen von Kytena abzulenken.«
Erschrockenes Schweigen trat ein. Dann kamen die Höhlenkrieger auf Alasar zu, die ebenfalls nach Thebal geschickt worden waren, und fielen ihm um den Hals. »Du hast uns nicht im Stich gelassen!«, riefen sie gerührt. »Jetzt hast du uns allen das Leben gerettet. Wir folgen dir, egal wohin!«
Alasar ließ sich von seinen Leuten umarmen und nahm ihre Treueschwüre dankbar an. Dann wandte er sich an die Generäle. »Was ist mit euch?«
Die Generäle sahen ihn verkniffen an. Stockend sagte einer: »Was hast du denn vor?«
Die Königin
Ardhes blickte auf, als sich ihre Zimmertür schwungvoll öffnete. Königin Jale stand auf der Schwelle. Einen Augenblick lang starrte sie Ardhes an; dann glitt sie ins Zimmer und hob theatralisch die Arme. In ihrer rechten Hand lag ein zerknitterter Brief.
»Sie haben die Grenze überquert! Unsere Späher haben das Heer gesehen. Ich habe keine Nachricht von unseren Grenztruppen - wahrscheinlich wurden sie zerschlagen.« Jale presste sich eine Hand auf den Bauch und ließ sich auf Ardhes’ Bett sinken. Ardhes beobachtete sie reglos von ihrer Fensterbank aus.
»Hast du denn nichts dazu zu sagen?«, jammerte ihre Mutter. Sie sah wieder aus dem Fenster. Dichte Wolken hingen über dem Land und vereinten sich mit dem Nebel der Berge. Hin und wieder wirbelte eine Woge Schneekörner durch die Luft. Es war bestimmt kalt draußen. Ardhes hatte ihr Zimmer seit Tagen nicht verlassen. Anfangs hatte ihre Mutter jeden Abend die Tür zugesperrt und Wachen vor ihren Balkon gestellt, aus Angst, sie könne wieder heimlich zu Octaris gehen. Als die Königin gemerkt hatte, dass Ardhes ihr Zimmer weder nachts noch tagsüber verlassen wollte, hatte sie damit aufgehört. Inzwischen erkundigte sie sich sogar nach Ardhes und ließ ihr Essen bringen, und seit dem Auftauchen des myrdhanischen Heeres stürzte Jale jedes Mal in ihr Zimmer, wenn sie Neuigkeiten erhielt.
»Ich habe einen Brief von König Helrodir erhalten«, fuhr Jale gefasster fort. Ardhes hörte das Papier knistern, als ihre Mutter den Brief aufrollte und glättete. »Er schreibt, dass sein Heer uns frühestens in sieben Tagen erreichen kann. Das myrdhanische Heer ist jedoch nur noch zwei Tagereisen von uns entfernt. Das heißt, wir sind den Feinden fünf Tage lang ausgeliefert. Wir müssen mit einer Belagerung rechnen. Und unser Schloss … ist ein Bau der Elfen!« Die Königin stieß hohe Schluchzer aus, wie Schluckauf klang es. »Sie werden das Schloss in wenigen Stunden einnehmen! Dieser Bau ist unsicher wie eine Strohhütte!« Eine Weile wimmerte sie in ihr Taschentuch.
Ardhes hatte in den letzten Tagen kaum ein Wort gesagt. Je weniger sie sprach, umso schwerer fiel es ihr, überhaupt den Mund zu öffnen. Ob sie einmal ganz verstummen würde? Sie konnte es sich gut vorstellen. Es gab nichts mehr, worüber sie sprechen wollte.
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