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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Und vor allem niemanden, mit dem sie sprechen wollte.
    »König Helrodir schreibt weiter, wir sollen uns um diplomatische Kontakte bemühen. Angeblich untersteht das Heer nicht der Befehlsgewalt des Königs von Myrdhan. Sie sagen sogar, Morgwyn sei schon tot. Das Heer reist außerdem ohne Flaggen. Wir wissen weder, wer der Heerführer ist, noch zu welchem Ziel er unterwegs ist. Das Einzige, was wir mit Bestimmtheit sagen können, ist, dass das Heer aus Myrdhan stammt.« Jale wartete einige Augenblicke lang ab, ob diese Information Ardhes zu einer Reaktion bewegen würde; dann stand sie auf, ging zum Tisch und nahm sich eine Orangenscheibe von einem Teller, den Candula vorher gebracht hatte.
    »Man munkelt, der Heerführer sei ein junger Mann, der aus einem weit entfernten Königreich gekommen ist. Jedenfalls haben sich ihm Söldner aus Methura, Arpolis und Salkand angeschlossen. Er ist zumindest nicht mit der Königsfamilie Myrdhans verwandt, sonst würde er ihr Wappen tragen. Sein Heer gibt sich durch nichts zu erkennen. Keine Flagge, ist das zu fassen?« Nachdenklich nagte Jale an der Orangenscheibe. Dann seufzte sie und trat auf Ardhes zu. Sie streckte die Hand aus, um ihre Schulter zu berühren, hielt jedoch inne und senkte sie wieder - Ardhes beobachtete es in der Fensterscheibe.
    »Wir müssen unbedingt unser Bündnis mit Haradon festigen«, sagte Jale plötzlich. »Wenn du einen haradonischen Mann hättest, hätten wir mehr Truppen, um uns zu schützen.«
    Ardhes musste auflachen und drehte sich zu ihrer Mutter um. »Jetzt reicht es also nicht mehr, einen haradonischen Vater zu haben?« Königin Jale sah sie ausdruckslos an. Ardhes senkte den Blick und wandte sich wieder ab. Sie fühlte sich verletzt und bereute ihre Worte, als hätte sie sich daran geschnitten.
    »So etwas sagst du nie wieder. Hast du verstanden? Ob du verstanden hast!«
    »Ja, Mutter.«
    Jale erwiderte ihren Blick im Fenster. Eine Weile sah es aus, als wollte sie etwas sagen, doch sie presste bloß die Lippen aufeinander, drehte sich schließlich um und ging.
    Es war merkwürdig, doch Ardhes empfand keine Angst, geschweige denn Panik, als das Heer am Horizont in Sicht kam.
    Schon zwei Tage vorher hatte Aufruhr im Schloss geherrscht. Kaum noch war das raue Gelächter der Soldaten erklungen. Die Dienerinnen hatten nicht mehr gekichert und gescherzt, stattdessen herrschte beklemmende Stille. Von ihrem Fenster aus hatte Ardhes auch beobachtet, wie Scharen von Dorfbewohnern durch das Land gezogen waren, auf dem Weg in die Städte, um sich hinter den Wällen in Sicherheit zu bringen. Ardhes berührte all das nicht. Sie war in ihrer eigenen Welt gefangen, in einem wachen Schlaf, im Niemandsland.
    Es war nicht der Schock, der sie lähmte; die Offenbarung von Octaris, die ihren Traum zerstört, und die Offenbarung ihrer Mutter, die ihr den Vater genommen hatte, waren schmerzhaft gewesen, aber nicht traumatisch. Was Ardhes in ihrem Zimmer hielt, was sie verstummen ließ, ihren Appetit raubte, war nicht Traurigkeit. Es war allein die Tatsache, dass es nichts gab, wofür sie ihr Zimmer verlassen sollte. Es gab keinen Anlass zum Weiterleben, das war ihr klar geworden. Es gab aber auch keinen zum Sterben, denn sie war nicht verzweifelt. Sie empfand gar nichts.
    Dann kam das Heer. Sein Anblick war überwältigend. Tausende von winzigen Gestalten zogen über die Gebirgspässe. Ihnen voraus flogen Windreiter auf ihren Drachen, um Fallen und Spione ausfindig zu machen. Keine Fahnen verrieten, für wen das Heer auf Reisen war.
    Ardhes fragte sich, ob sie sterben würde. Sie stellte sich vor, wie das Schloss belagert wurde, wie die dunklen Steinmauern erbebten. Wie sich Feuer im Hof ausbreitete, Schreie in der Luft zitterten und Pfeile durch die Fenster hagelten. Sie stellte sich vor, wie ein myrdhanischer Soldat ihre Tür eintrat, sie entdeckte und sein Schwert über ihr hob. Er würde wer weiß welche Gründe haben, um sie umzubringen. Und wenn er sie tötete, vielleicht dachte er dann, dass er ein Held war; dass er die Prinzessin des feindlichen Reiches getötet hatte und mit ihrem Leben die letzte Hoffnung eines alten Königreiches erlosch.
    Das alles wäre zu einfach. Ardhes wusste, dass ihr Dasein und das ganze elende Netz aus Verrat, Geheimnis und Intrigen nicht durch einen einzigen Schwertstreich vernichtet werden konnten. Aber ihr Instinkt hatte sie schließlich schon oft getäuscht.
    Es war früher Nachmittag, als das Heer vor dem Schloss zum

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