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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Stillstand kam. Das Tor war verriegelt. Entlang der Wehrmauer standen Bogenschützen.
    Eine Zeit lang ordnete sich das Heer. Immer wieder erhoben sich Windreiter in die Lüfte, und Ardhes sah, wie die Drachen über das Schloss hinwegflogen. Eine Stunde lang warteten alle mit gespannten Nerven auf den ersten Angriff.
    Aber nichts kam. Das fremde Heer besaß keine Belagerungsmaschinen. Es schien fast, als hätte es sich rein zufällig neben dem Schloss niedergelassen und die unzähligen, bis an die Zähne bewaffneten Krieger hätten keinerlei Absichten - eine friedliche Katze neben ihrer Maus.
    Königin Jale schickte einen Herold hinaus. Trompeten erklangen wie bei einem festlichen Empfang, ganz so als lagerte keine Armee, sondern ein königliches Gefolge vor dem Schloss. Ardhes musste beinahe lachen. Alle taten so, als wäre weder die Bedrohung des fremden Heeres noch die Angst im Schloss vorhanden! Der Herold verkündete, dass die Königsfamilie von Awrahell den Heerführer und seine fünf engsten Generäle um die Ehre bat, sich vorzustellen und mit ihnen zu speisen. Ardhes wusste davon, weil ihre Mutter seit zwei Tagen damit beschäftigt gewesen war, ein Festmahl vorzubereiten und die nötigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen (in letzter Minute hatte sie sich für Kalbsbraten und zwanzig Leibwächter entschieden).
    Nach einer halben Stunde kehrte der Herold zurück. Er war noch am Leben - also rief Ardhes Candula, damit sie sie für den Empfang ihrer potenziellen Mörder ankleidete.
    Gerade schnürte die Amme ihr das Kleid am Rücken zu, da klopfte es an der Tür, und eine Zofe der Königin verkündete, dass sie in einer Stunde in einem großen Speisesaal erwartet wurde. Ardhes nickte abwesend.
    Candula ließ sich mit dem Frisieren ihrer Haare Zeit, obwohl ihre alten Hände vor Aufregung zitterten. Ardhes spürte sehr wohl, dass ihre Amme etwas auf dem Herzen hatte - und es fiel ihr nicht schwer zu erraten, dass es mit dem fremden Heer zu tun hatte -, aber Candula brachte kein Wort heraus. Seit Ardhes in Schweigen verfallen war und ihr Zimmer nicht mehr verließ, wagte ihre Amme kaum mehr, mit ihr zu sprechen, aus Angst, sie zu verärgern oder zu bekümmern.
    Umso aufmerksamer widmete sie sich ihren Haaren, flocht ihr die vorderen Strähnen und drehte einen Zopf um ihre Stirn, der wie ein Diadem aussah. Als Ardhes sich im Spiegel betrachtete, fühlte sie, wie sich ihre Muskeln spannten. Dieselbe Frisur hatte sie an jenem Morgen getragen, als sie Revyn das erste Mal am Waldrand vor Logond getroffen hatte.
    Ihr Treffen war tatsächlich ein Zufall gewesen - sie hatte es nicht geplant oder in einer Vision vorhergesehen. Sie hatte sich an jenem Morgen heimlich aus Logond geschlichen, weil sie neugierig auf den Wald und die Landschaft gewesen war, die der von Awrahell so unähnlich schien. Und dass sie ausgerechnet Revyn getroffen hatte, war ihr wie ein strahlender Wink des Schicksals vorgekommen. Sie hatte so fest geglaubt, dass sie füreinander bestimmt waren. Sie hatte geglaubt, die Heldin einer großen Geschichte zu sein. Aber sie lebte in einer Welt aus Lügen.
    Candula begleitete sie bis zum Speisesaal. Es war im Grunde eine Empfangshalle, in die Königin Jale eine Rundtafel hatte stellen lassen. Silberne Kerzenständer und drei schwere Kronleuchter ließen sie in sanftem Licht erstrahlen, denn durch die Glasfenster hoch oben drang nur kränklich gelbes Licht. Alles sah so unwirklich aus; die silbernen Teller und Kelche, das polierte Besteck, die Stühle, die stramm nebeneinander standen. Statt eines Festessens hätte ein Krieg stattfinden sollen. Alles war völlig fehl am Platz.
    »Ardhes!« Königin Jale kam auf sie zu. Sie trug ein schwarzes Kleid mit goldenen Borten, das wohl ihre Autorität und ihren Reichtum gleichermaßen betonen sollte. Ihr bleiches Gesicht war gepudert, doch die Sorge und Anspannung hatte sie damit nicht verdecken können.
    »Lass dich ansehen.« Ihre Mutter drehte Ardhes leicht in beide Richtungen und betrachtete ihr helles Kleid. Dann blickte die Königin in ihre stillen Augen und seufzte. »Wer auch immer gleich in diesen Saal kommt, behandle sie mit größtem Respekt. Und wenn es die schlimmsten Barbaren sind!« Jale biss sich auf die zitternde Unterlippe. Dann strich sie Ardhes über den Arm. »Keine Angst. Uns passiert schon nichts.«
    Aus einem Seitenflur kam Octaris. Er blieb zögernd stehen und sah Ardhes und Jale über die Tafel hinweg an. Ardhes konnte seinen Blick nicht

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