Das Drachentor
verschwamm, auch die Flammen des Feuers zerfielen. Die Farben fügten sich auf den winzigen Wellen in der Schale zu neuen Bildern.
Es war schwer, dem Drang zu widerstehen, die Augen zu schließen. Eine selbst erzeugte Vision direkt anzusehen war so schwierig, wie in die Sonne zu schauen - aber sie hatte es in den vergangenen Monaten gelernt, Nacht um Nacht. Das Wasser zeigte ihr Farben und Formen, Bewegungen und Schemen wie in einem wirren Traum. Sie sah ein aufgewühltes Meer aus Trauer, Erwartung und Zweifel in der Seele, in die sie hineinspähte. Es war ein unerfüllter, suchender Geist. Vielleicht sucht er nach mir, durchfuhr sie ein heimlicher Gedanke.
Sie sah einen Mann mit grässlichen Narben auf dem Rücken, die sie wie hämische Grimassen anzugrinsen schienen … Sie sah eine hagere Frau mit dünnem Haar und großen Augen, die an einem Webstuhl saß. Ihre Finger waren um etwas geklammert, das sie um den Hals trug, wahrscheinlich eine Kette … Sie sah einen Jungen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, der sich mit einem Tuch das Blut von der Stirn wischte … Sie sah einen weiten Himmel über rauschenden Wiesen und Feldern. Sie sah all die Dinge, die der Fremde gesehen hatte und die in seinem Bewusstsein durcheinanderschwammen.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der gerufenen Person in einer Vision auseinanderzuhalten war schwierig. Für so ein Spiel konnte sie ihre Kraft nicht verschwenden, um alle drei zu trennen … Als sie es dennoch versuchte, stoben die Farben wild durcheinander, und Wasser schwappte über den Schalenrand. Abrupt unterbrach Ardhes die Beschwörung und befahl den Visionen mit einer raschen Handbewegung und einem leisen Spruch, sich wieder aufzulösen. Sie wischte die Runen fort und goss das Wasser aus der Schale ins Feuer. Die Flämmchen zischten und kämpften tapfer gegen das Nass, doch schließlich wurden sie immer kleiner, bis sie nur noch schmal und glimmernd an ihrem Holzscheit kauerten.
Ardhes stand eine Weile reglos in der trüben Dunkelheit. Noch immer erfüllten sie die Gefühle der fremden Seele. Sie kribbelten ihr im Bauch und rauschten durch ihren Kopf.
Sie würde ihn sofort erkennen, wenn sie ihm begegnete. Was sie in ihrer Vision gesehen hatte, war anders gewesen als das Innenleben der Menschen, die sie gemeinsam mit ihrem Vater betrachtet hatte; da waren ein tiefer Kummer, eine lähmende Furcht in dieser fremden Seele und eine verzehrende, undeutliche Sehnsucht.
Sie lächelte verwirrt. Wahrscheinlich kam er ihr nur so außergewöhnlich vor, weil sie wusste, dass sie ihn einmal lieben würde.
Seit dem Besuch von König Helrodir im Herbst war Ardhes fast jede Nacht zu ihrem Vater gegangen. Candula bekam davon nichts mit, denn Ardhes stahl sich erst davon, wenn ihre Amme tief schlief. Ihre Mutter durfte natürlich erst recht nichts von den Stunden erfahren, die sie bei ihrem Vater verbrachte. Hätte Königin Jale gewusst, dass ihre Tochter heimlich Zauberei und anderes Elfenwissen erlernte, wäre ihr Zornesausbruch fürchterlich gewesen - sie hätte es als persönlichen Verrat angesehen.
Natürlich hätte ihr Vater darauf bestehen können, dass seine Tochter diese Dinge von ihm lernte. War er nicht der König des Reiches? Und war sie, Ardhes, nicht eine Halbelfe und somit berechtigt, die Geheimnisse des Elfenvolks zu kennen? Aber König Octaris schien es nicht zu stören, dass Ardhes sich nachts zu ihm schlich und ihn tagsüber mied. Vielleicht hatte er wirklich Angst vor Jale - Angst davor, sich ihrer Tochter zu nähern und Anspruch auf etwas zu erheben, das Jale ganz allein besitzen wollte. Und als Ardhes all die wunderbaren, mächtigen Gaben entdeckte, die Octaris besaß, verachtete sie ihn für seine Feigheit umso mehr.
Anfangs war sie Nacht für Nacht zu ihrem Vater zurückgekehrt, weil das geheime Wissen sie lockte. Bereitwillig ließ sie sich von Octaris in eine fremde, verbotene Welt mitnehmen, wo Visionen im Wasser, magische Runen und elfische Beschwörungsworte eine Brücke zwischen Traum und Wirklichkeit schufen. Dafür nahm sie die Lügen in Kauf, mit denen sie Candula tagsüber ihre Müdigkeit erklärte, und stürzte ihre arme Amme in Sorgen und Kummer. Ardhes musste zusehen, wie Candula einen ganzen Tag lang auf Kräutersuche in den Gebirgen ging, nur um ihr schlaffördernde Tees zu kochen, die Ardhes heimlich aus dem Fenster kippte. Allein schon um ihretwillen hätte Ardhes die nächtlichen Treffen mit ihrem Vater eingeschränkt.
Doch es gab
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