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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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einen Grund, wieso sie immer wiederkam. Es waren bald nicht mehr die faszinierenden Zauberspiele, auch wenn sie reizvoll genug waren, um nächtelang wach zu bleiben. Es war die Geschichte ihres Vaters.
    Wenn sie den Balkon betrat und den König mit ausgebreiteten Armen und offenen Augen unter dem Sternenhimmel liegen sah, störte sie ihn nicht wie früher, sondern blieb still stehen und wartete, bis er sich wieder regte. Denn wie sie erst jetzt begriff, blickte er gar nicht wirklich zu den Sternen auf oder wartete darauf, einzuschlafen - er sah Dinge und war an fernen Orten, aus denen er erst zurückkehren konnte, wenn er genug gesehen hatte.
    Und manchmal, wenn Ardhes ihn darum bat, ließ er sie zu den Kindern von Ahiris mitgehen, indem er ihr alles erzählte.
     
    Sie saßen sich ganz still gegenüber. Mond und Sterne waren hinter schwarzen Wolken verborgen. Nur zwei kleine Kerzen, die Ardhes vorher aus dem Zimmer mitgebracht hatte, spendeten gerade so viel Licht, dass sie die Umrisse ihres Vaters wahrnehmen konnte. Sein helles Haar schimmerte an den Schläfen und über der Stirn wie eine Krone aus zartem Licht. In seinen Augen spiegelten sich die Kerzenflammen, doch sie bewegten sich darin langsamer als in Wirklichkeit, so als hätte das Blau der Iris eine einschläfernde Wirkung auf sie.
    »Und?«, fragte er leise. »Bist du bereit?«
    Ardhes nickte. »Wen besuchen wir diesmal?«
    König Octaris schloss die Augen und atmete tief ein, als verrate die klare Nachtluft ihm die Antwort. »Wir reisen nach Myrdhan, meine Ardhes- ayen .«
    »Zu dem Wolfsjungen?«
    Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Ich glaube, so nennst du ihn, ja.«
    Ardhes faltete die Hände und setzte sich bequem hin. »Gut. Ich war schon gespannt, was mit ihm geschieht. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob er mein Mitleid verdient; er hat etwas an sich, das mich schaudern lässt.«
    Eine Weile sah Octaris sie wortlos an. Dann senkte er den Blick und wechselte das Thema: »Du weißt, sobald ich eintauche, ist jede Erinnerung an die Vision später so verschwommen wie an einen Traum. Du bist nun mein Gedächtnis, Ardhes. Präge dir genau ein, was ich sage, damit wir später darüber sprechen können.«
    »Ja, gut.« Sie atmete tief ein, um sich zu konzentrieren. Manchmal gelang es ihr, seine Geschichte fast Wort für Wort zu rezitieren. Es war eine Frage der Übung und des Willens.
    »Gut … nun«, murmelte Octaris und schloss halb die Augen. »Nun. Wo waren wir stehen geblieben?« Wie immer dauerte es einige Momente, ehe er so weit war. Er verstummte und eine Weile war nur sein ruhiger Atem zu hören. Dann begann seine Geschichte.
    »Als der erste Frühlingstag anbrach, war von den heimlichen Höhlenbewohnern nur ein Grüppchen ausgezehrter, ängstlicher Kinder geblieben.
    Vorsichtig trat Alasar aus dem Felsspalt. Seine Augen mussten sich erst an das Tageslicht gewöhnen. Unendlich weit lag das Land vor ihm. Das Eis und der Schnee waren beinahe ganz geschmolzen und bis zum Horizont erstreckte sich ein Ozean aus Hügeln und Felsen. Unter seinen Füßen wuchsen winzige gelbe Butterblumen. Sie reckten sich aus den Felsritzen wie neugierige Köpfe, die die Welt erspähen wollten, und plötzlich erkannte Alasar sich selbst und seine Gefährten in ihnen wieder. Er musste lächeln, obgleich seine Augen dunkel und ernst blieben.«

Das Holz
    Als der erste Frühlingstag anbrach, war von den heimlichen Höhlenbewohnern nur ein Grüppchen ausgezehrter, ängstlicher Kinder geblieben.
    Vorsichtig trat Alasar aus dem Felsspalt. Seine Augen mussten sich erst an das Tageslicht gewöhnen. Unendlich weit lag das Land vor ihm. Das Eis und der Schnee waren beinahe ganz geschmolzen und bis zum Horizont erstreckte sich ein Ozean aus Hügeln und Felsen. Unter seinen Füßen wuchsen winzige gelbe Butterblumen. Sie reckten sich aus den Felsritzen wie neugierige Köpfe, die die Welt erspähen wollten, und plötzlich erkannte Alasar sich selbst und seine Gefährten in ihnen wieder. Er musste lächeln, obgleich seine Augen dunkel und ernst blieben.
    Das Feuerholz war vor einer Woche zur Neige gegangen. Aber nun war es Frühling und die schweren Zeiten lagen hinter ihnen, das spürte Alasar mit jedem Atemzug. Er war voller Tatendrang; nun musste aus der verlorenen Gruppe, die sich unter den Felsen versteckte, ein Volk werden.
    Zuerst brauchten sie Holz. Und zwar dringend. Alasar überlegte fieberhaft, wie sie an Brennmaterial kommen konnten, ohne Gefahr zu laufen, dass

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