Das Drachentor
denen er die Welt ringsum vergessen konnte.
Einmal fand er den winzigsten Krebs, den er je gesehen hatte: Er war kaum größer als der Nagel seines Daumens und so durchsichtig und zart, als bestünde sein Panzer aus hart gewordener Milch. Behutsam trug Alasar ihn in der Hand zurück in die Grotte, wo er mit Magaura, Rahjel und Tivam gespielt hatte. Als er näher kam, hörte er nicht mehr ihr lautes Lachen und Rufen; nein, andere Klänge wehten durch die Felsgänge. In den Schatten der Höhle blieb er stehen. Von hier aus sah er Rahjel und Magaura. Rahjel hielt seinen kleinen Bruder in den Armen, Magaura kniete neben ihm. Sie spielte mit den Spitzen ihrer dunklen Haare, während sie ihm ein Lied vorsang. Es war ein Lied, das ihre Mutter ihnen vor langer Zeit vorgesungen hatte. Ein Lied, das Alasar in ein fernes Leben zurückrief, in eine geisterhafte Vergangenheit, in der er abends in den weichen Fellen seines Bettes gelegen hatte, satt und zufrieden, während das Herdfeuer seiner Mutter geknistert hatte … Magauras weiche Mädchenstimme erfüllte die Grotte mit hundert Erinnerungen, und selbst der kleine Tivam schwieg, als könne er verstehen, was das Lied bedeutete.
Rahjels Blick ruhte auf Magaura. Seine Augen waren ernst und nachdenklich, und Alasar hatte plötzlich das Gefühl, als wisse sein Freund etwas, das er nicht wusste - und nicht wissen durfte. Seine Muskeln spannten sich. »Hör auf, dieses Lied zu singen«, befahl er kalt. Magaura schloss erschrocken den Mund. Nie hatte Alasar in diesem Ton mit ihr gesprochen. »Dieses Lied singst du nie wieder, verstanden? Es gehört nicht hierher!«
Verwirrt über seine eigene Wut, merkte Alasar zu spät, dass er den Krebs in seiner Hand zerquetschte. Ein winziges Beinchen zuckte noch, dann war er tot. Es war Alasar gleich. Er wischte die Finger an seinem Wams ab und rannte davon.
Alasar zog sich für den Rest des Tages in seine Höhle zurück, und als er wieder hervorkam, wurde bereits das Abendessen ausgeteilt. Er stieg auf den Felsvorsprung, wie er es schon mehrmals getan hatte, und erklärte, dass es Festtage geben sollte. Einer musste bald stattfinden. »Jeder von euch kann versuchen, sich dafür neue Lieder auszudenken. Aber es müssen alles neue Lieder sein! Denn hier sind wir nicht mehr in unseren Dörfern. Was früher war, ist vorbei. Es wird nie wieder sein, also denkt nicht mehr daran. Eure Heimat ist nicht zerstört - eure Heimat ist hier! Und sie ist gerade erst am Wachsen. Wir sind alle die Kinder der Höhlen! Wir sind die Höhlenkinder!«
Als er die Faust in die Luft stieß, jubelten seine Gefährten, denn es waren die schönsten Worte, die sie seit langer Zeit gehört hatten. Vielleicht hatten sie alles verloren, ihre Häuser und Geschwister, ihre Eltern und sogar das Sonnenlicht und den Anblick des Himmels; doch jetzt wurde ihnen etwas gegeben, an das sie sich halten konnten: Es war das Leben selbst. Alasar zeigte es ihnen.
Es war nicht nur die Not, die die Menschen an Alasar band. Es war auch die Freude. Die Kinder schienen ihr ganzes Elend völlig zu vergessen, als ihr erster Festtag stattfinden sollte. Alasar ließ mehr Essen austeilen, es wurde gesungen, getanzt, gelacht und gespielt. Von da an beschloss er, dass es viele Feiertage geben sollte, solange er es war, der sie den Kindern schenkte.
Die Wochen verstrichen. Die Schneestürme heulten ohne Unterlass über das Land hinweg. Alasar, Magaura, Rahjel und Tivam spielten nicht mehr miteinander, auch die restlichen Kinder verfielen für den Großteil des Tages in dumpfes Schweigen. Alasar bezweifelte, dass die anderen es wussten, aber er hatte es gemerkt: Das Brennholz neigte sich dem Ende zu. Sie konnten aber auch nicht daran sparen, jetzt wo es so kalt wurde in den Nächten, dass ihnen die Zähne schmerzten. Zwei, allerhöchstens drei Wochen mochten sie noch mit ihrem Holzvorrat auskommen, und es war erst Januar - noch in zwei Monaten konnte tiefster Winter herrschen.
Nachts, wenn Alasar vor Sorge keinen Schlaf fand oder aus Albträumen erwachte, in denen er Magaura steif gefroren neben sich liegen sah, das runde Gesicht porzellangleich und starr, dann stand er auf, hüllte sich in seine Felle und lief in die Vorratskammern. Beim Anblick der schrumpfenden Holzstapel übermannte ihn abgrundtiefe Verzweiflung; er suchte nach allen Möglichkeiten, um neues Brennmaterial zu beschaffen, aber es gab keine Lösung. Wütend schlug er mit den Händen gegen den Stein. Wie verloren und gefangen
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