Das Drachentor
Erde fand. Langsam und schwerfällig warf er sie ins Grab, bis es wieder geschlossen war. Mit Schwindel kam er auf die Füße. Er hatte sie getötet …
In welcher Richtung lag das Dorf? Kein Sternenlicht fiel vom Himmel, alles war in tiefes Schwarz getaucht. Revyn ging seinem Gefühl nach. Er glaubte durch das Gras zu schweben und nahm kaum wahr, wie oft er stolperte.
Dann erkannte er verschwommen die Lichter einiger Häuser, die er davor nicht wahrgenommen hatte. Wie ein großer Schatten zeichneten sich die Scheunen der Drachen vor dem Schimmer ab. Ja, was er brauchte, war ein Drache. Um zu fliehen. Um die Soldaten einzuholen.
Er würde den Soldaten nachreisen und einer von ihnen werden. Es war kein Entschluss, den Revyn fasste; er hatte keinen Einfluss mehr auf sich selbst, er konnte nur noch zusehen, wie sein Schicksal und das seines Vaters sich unwiderruflich umschlangen wie zwei feuerrote, bösartige Schlangen. Sein Vater hatte Miran umgebracht - und Revyn hatte es in seiner Feigheit nicht verhindert. Sein Vater hatte seine Mutter ihr ganzes Leben lang zerstört - und Revyn hatte sie zuletzt in den Tod gestoßen. Sein Vater war ein Mörder gewesen und Revyn war es jetzt endgültig auch. Und so wie sein Vater ein Soldat gewesen war, aus dem Krieg gekommen und im Krieg verschwunden, so musste auch Revyn in den Krieg gehen, um so elend zu sterben wie er.
Das alles erschreckte Revyn nicht. Er ging auf die Drachenställe zu, weil er es musste. Wenn er hierblieb, würde er als Mörder festgenommen und hingerichtet. Das konnte er nicht, ihm fehlte der Mut dazu. Wie seinem Vater.
War es nicht schicksalhaft? Gerade jetzt fing der Krieg wieder an, so als hätte er nur auf Revyn gewartet! Ein fremdes, schreckliches Lachen drang aus seinem Mund, vor dem er sich selbst erschreckt hätte; aber jetzt wusste er ja, wer er wirklich war. All das, was er zu sein geglaubt hatte, war von ihm abgefallen, wie das Fleisch von einem verrotteten Knochen. Nur die Wahrheit war übrig geblieben.
Die Stalltüren waren verschlossen, aber Revyn wusste, wo eine Leiter lehnte, über die man auf den Heuboden gelangte. In der Dunkelheit fand er sie bald und kletterte sie in schnellen, furchtlosen Zügen hinauf. Irgendwo in seinem Inneren keimte die Hoffnung auf, dass er einfach fallen und sterben würde, dann wäre alles zu Ende. Aber er fiel nicht. Er erreichte den Heuboden, durchschritt ihn bis zu einer zweiten Leiter, die hinunter zu den Ställen führte.
Er hörte das Schnauben und Rascheln der Tiere, die ihn bemerkt hatten. An mehreren Stalltüren ging er vorbei, bis er glaubte, die Tür gefunden zu haben, die er suchte. Seine Hände glitten über das glatte Holz, bis er den Riegel berührte und die Tür aufschob. Er trat in den Stall.
Obwohl er nichts sah, war er sofort sicher, dass hier der Drache war, der dem Lehrling die Rippen gebrochen hatte. Das Tier stieß ein erschrockenes Schnauben aus und wich zurück, als es das Blut an Revyns Händen roch. Revyn wollte ihm beruhigende Worte zuflüstern, doch sie kamen ihm nicht über die Lippen. Fürchte dich nicht. Du und ich, wir gehören zusammen.
Als hätte der Drache begriffen, stieß bald seine Stirn an Revyns Schulter, und eine warme Atemwoge strich ihm über das Gesicht.
Revyn führte den Drachen aus seinem Stall und die lange Scheune entlang bis zum Hintertor. Er hievte den Balken zur Seite, der das Tor verschloss, und zog es auf. Kühler Wind wehte ihnen entgegen. Jetzt kam der schwierigste Teil.
Langsam drehte er sich zu dem Drachen um. Er stand ruhig hinter ihm. Einen Drachen zu besteigen war keine einfache Sache. Die Drachenkrieger benutzten dafür besondere Schlaufen aus lederumwickeltem Eisen, die sie über das empfindliche gebogene Horn am Ende des Drachenschwanzes hakten. Damit zogen sie den Schwanz seitlich zu sich heran. Ein erwachsener Mann konnte darauf stehen und sich auf diese Weise auf den Rücken des Drachen heben lassen.
Revyn hatte aber keine Schlaufe, mit der er seinen Aufstieg erzwingen konnte. Irgendwie würde der Drache ihm freiwillig den Schwanz entgegenstrecken müssen. Wenigstens trug der Drache die Gurte, die seine Flügel an den Körper banden - ansonsten hätte Revyn gleich aufgeben können, ihn reiten zu wollen.
Hebe mich hoch, wenn du willst. Wenn nicht, bleibe ich hier und werde festgenommen. Er ließ den Drachen über seine Zukunft entscheiden. Der Drache regte sich mehrere Sekunden lang nicht. Dann stieß ihm etwas ganz leicht gegen die
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