Das Drachentor
lebte weiterhin in dem Glauben, dass sein Vater wiederkehren würde, und wartete jeden Tag auf ihn. Über die Jahre wurde sie immer zerstreuter und abhängiger von Revyn. Er fand für einen kümmerlichen Lohn Arbeit in den Drachenställen und konnte sich und seine Mutter davon ernähren. Weil er Vater und Bruder an einem Tag verloren hatte, schien er die Rolle von beiden übernehmen zu müssen. Hatte er früher Obst gestohlen und in den Wiesen gespielt, hatte er sich hinter Miran versteckt oder war den lieben langen Tag durch den Wald gestreift, so änderte sich sein Leben nun von Grund auf. Er lernte, Verantwortung zu übernehmen und alles zu verschweigen, alles zu verdrängen. Er lebte mit seiner Mutter, als habe jener Sommertag nie stattgefunden, an dem er die Hälfte seiner Familie verloren hatte.
Seine Mutter sprach kein einziges Mal über Mirans Tod. Wahrscheinlich dachte sie manchmal an ihn, wenn sie abends seufzte und ihre Tränen vergoss. Doch all ihre Worte galten seinem Vater.
Merkwürdigerweise zweifelte Revyn nie daran, dass er für immer weg war. Es kam ihm fast selbstverständlich vor, dass sein Vater aus seinem Leben verschwinden musste, nun da er ihm das Schlimmstmögliche angetan hatte.
Revyn hätte hinnehmen können, dass sein Vater ein schlechter Mensch war. Er hätte sich damit abgefunden und sich in Gedanken so weit wie möglich von ihm entfernt, bis sein Vater für ihn nicht mehr gewesen wäre als eine Verkörperung des Bösen, das es in der Welt nun mal gab und das nur zufällig mit ihm verwandt war. Aber was Revyn kaum ertrug, war, dass seine Mutter ihn nach wie vor liebte.
Es schien, als habe sie Miran vergessen, als spiele sein Tod für sie keine Rolle. Dass ihr Mann ein Mörder war, dass er ihr den Sohn genommen hatte, trübte ihre Liebe nicht. Wenn sie zitternd vor Sorge aus dem Fenster spähte, wenn sie seine alten Schuhe putzte und vor die Haustür stellte und doppelte Portionen kochte und für eine dritte, nicht vorhandene Person den Tisch deckte, überkam Revyn so viel Hass und Abscheu, dass er sein Schweigen nur mit Mühe bewahren konnte. Oft aß er mit heimlich geballten Fäusten, wenn seine Mutter den größten Teil der Suppe im Topf ließ, damit genug für seinen Vater übrig blieb.
Aber Revyn sprach seine Mutter nicht darauf an. Nein, er hielt sich eisern zurück. Ihre Liebe für Mirans Mörder war alles, was sie je gehabt hatte. Sie war nichts ohne ihn und nur der Gedanke an seine Rückkehr hielt sie in Wahrheit am Leben. Aber das wurde Revyn erst klar, als es zu spät war.
Am Nachmittag sammelten sich die Männer des Dorfes, die beiden Händler mit ihren neu erworbenen Drachen und die Soldaten am Dorftor. Viele Männer hatten sich der Gruppe angeschlossen, um für das Vaterland in den Krieg zu ziehen.
Von der Hütte aus konnte Revyn den Abschied der Männer beobachten. Sein Blick verweilte jedoch nicht lange bei den Dorfbewohnern, sondern wanderte wie von selbst zu den Drachen hinüber. Er seufzte leise bei ihrem Anblick, so schön waren sie und so traurig kamen sie ihm vor. Man hatte die Drachen mit langen Stricken aneinander festgebunden, sodass sie nur einer hinter dem anderen laufen konnten. Revyn suchte den Drachen, der dem Lehrling die Rippen gebrochen hatte, aber er fand ihn nicht. Fast war er erleichtert, dass der Drache nicht verkauft worden war. Dabei würde er ihn bestimmt auch so nie wiedersehen - Barim ließ ihn gewiss nicht mehr in die Drachenställe.
Nachdem jeder sein Gepäck geschultert und die letzten Abschiedsküsse gegeben hatte, setzte sich die Gruppe in Bewegung. Die Zurückbleibenden standen vor dem Dorf und sahen zu, wie die Männer sich auf dem schmalen Weg zum Waldrand entfernten.
Abends streifte Revyn durch die Wiesen, um einen Hasen zu erlegen, denn mittlerweile rumorte der Hunger in seinem Bauch. Mit dem Bogen und den drei Pfeilen, die er einmal selbst geschnitzt hatte, lief er bald hierhin und dorthin und stakste durch die tiefen Schlammpfützen, doch er hatte kein Glück. Anstatt nach Hasen Ausschau zu halten, blickte er immer wieder unwillkürlich zum Himmel, der von schweren grauen Wolken bedeckt war, oder zum Waldrand, wo die Tannen sich wie große, dunkle Gestalten in Mänteln wiegten.
Revyn war kein guter Jäger, denn irgendetwas lenkte ihn immer ab. Er hatte bloß einmal vor drei Jahren einen Hasen erwischt, mit einer geschickt gebauten Fallgrube; aber als er das Tier dann entdeckt hatte, war er selbst so überrascht und
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