Das Drachentor
aufging. Revyn fuhr auf. Der Schreck durchströmte ihn so blitzartig - dass ihr Vater gerade in dem Moment aufgetaucht war, in dem sie über ihn gesprochen hatten, kam ihm vor wie ein dunkles Omen. Die schrecklichen Narben auf dem Rücken, die Dämonen schienen ihm plötzlich ganz nah zu sein und belauschten jeden seiner Gedanken, all seine Ängste.
»Es ist doch noch viel zu früh«, murmelte Miran. Dann lauschten sie beide mit angehaltenem Atem. Die Stimmen ihrer Eltern waren unverständlich. Dann erklang wie befürchtet ein leiser Schrei und noch einer.
»Dieses Ungeheuer!«, zischte Miran.
»MIRAN!«, brüllte ihr Vater im Haus. Vielleicht war er betrunken, vielleicht aber auch nur wütend. Er war auch ohne Schnaps ein boshafter Mann. »Revyn! Wo sind die Kinder?«
Schon zog Miran ihn ins hohe Gras. »Bleib hier.«
Drinnen erklangen die Schreie ihrer Mutter. »Miran! Miran!«
»Geh nicht rein!«, flüsterte Revyn. Er wünschte, er hätte seine eigene Feigheit nicht gehört. Schwer fügte er hinzu: »Ich komm mit!«
»Nein.« Miran stieß ihn grob zurück.
»Ich -«
»Hast du kapiert? Du bleibst da.«
Ehe Revyn es verhindern konnte, war sein Bruder aufgestanden und verschwunden. Und Revyn war zu ängstlich, um ihm nachzulaufen.
Tief ins Gras gekauert, lauschte er den Stimmen im Haus. Das Wimmern seiner Mutter verstummte, sobald Miran eintrat. »Was ist?«, fragte er.
Sein Vater begann, etwas vom Krieg in Myrdhan und neuen Eroberungen zu erzählen. Er hatte Soldaten im Dorf versprochen, dass er seinen Sohn nach Myrdhan schicken würde.
Als Revyn das hörte, wurde ihm schlecht. Miran! Wenn er ging … Revyn stellte sich ein Leben allein mit seinen Eltern vor, und plötzlich wünschte er, er könnte Miran begleiten, egal wohin. Fast wäre er aufgesprungen und ins Haus gerannt.
Und dann geschah etwas, was noch nie geschehen war. Laut und klar sagte Miran: »Nein. Niemals. Ich will nicht von hier weg.«
Bald brüllten und schrien mehrere Stimmen durcheinander, und Revyn, der eben noch ins Haus hatte stürmen wollen, presste die Hände auf die Ohren, um es nicht mit anhören zu müssen. Es war feige, ja; aber vielleicht war Revyn ein Feigling und würde nie so mutig sein wie Miran.
Trotzdem hörte er Bruchstücke ihres Streits. Und was er hörte! Nie hatte Miran gewagt, solche Dinge zu ihrem Vater zu sagen.
»Ich hasse dich! Du Scheusal - lass mich, lass Mama in Ruhe! Du bist ein Monster, ein fetter Säufer, elendes Schwein!« Er sagte alles, er sagte die ganze Wahrheit, und Revyn weinte heiße Tränen vor Stolz und aus Furcht um seinen Bruder.
Dann hörte er, wie Gegenstände brachen. Sein Bruder schrie auf. Ein Geräusch erklang, das Revyn nie vergessen würde. Ein Geräusch, das er in Albträumen hören würde. Das Geräusch eines Schürhakens, der niedersaust, immer wieder, und den Schädel seines Bruders zertrümmert.
Aller Lärm verebbte außer dem Schluchzen seiner Mutter. Sein Vater stapfte aus dem Haus.
»Bitte!«, wimmerte seine Mutter. Revyn sah, wie sie ihm aus dem Haus hinaus folgte und die Hände nach ihm ausstreckte. »Verlass uns nicht … verlass mich nicht!«
Revyn beobachtete, wie sein Vater mit eiserner Miene davonmarschierte. Er blutete aus der Nase, wo Miran ihn geschlagen hatte.
Sobald er nicht mehr zu sehen war, rannte Revyn zu seiner Mutter, die vor dem Haus kauerte und weinte. Er berührte vorsichtig ihren Rücken, doch sie war nicht verletzt. Sie weinte bloß. Revyn ging ins Haus.
Selten war er mit so großen Augen in die Hütte getreten und hatte doch so wenig erkannt. Als er ins Dunkel tauchte, war ihm, als befände er sich in raumloser, kühler Schwärze. Alles war fort, nur er war noch da, er und die reglose Gestalt. Auf dem Boden lag sein Bruder. Sein helles Haar war nass von etwas Klebrigem, Rotem.
»Miran?«, hauchte Revyn. Als er den blutigen Schürhaken sah, begriff er. Und doch konnte er es nicht fassen. Das Wasser lief ihm aus den Augen, aber er konnte nicht schluchzen. Kein Laut kam ihm über die Lippen.
Nach all den Jahren, nach all den Prügeln, nach allem, was Miran ertragen hatte … Nach alldem sollte sein Leben einfach vorbei sein. Es war, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. So einfach.
An diesem Tag floh sein Vater und kam nie wieder. Er schloss sich den Soldaten an, die nach Myrdhan zogen, und starb in irgendeiner Schlacht.
Jedenfalls stellte Revyn es sich später gerne so vor.
Revyn lebte von nun an alleine mit seiner Mutter. Doch sie
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