Das Drachentor
Gefühle waren ihm selbst ungreifbar und unerklärlich, sodass er am liebsten alleine war - oder bei den Drachen.
Ungefähr drei Wochen, nachdem Revyn zu den Zähmern gekommen war, erlebte er das erste Verschwinden. Frühmorgens wollte er nach einem Drachen sehen, der erst vor wenigen Tagen nach Logond verkauft worden war. Trotzdem - oder gerade deswegen - mochte Revyn ihn besonders. Etwas Zartes, Unschuldiges ging von ihm aus, eine Verletzlichkeit, die Revyn tief berührte. Fast hätte er nicht gewollt, dass der Drache zahm und von anderen geritten wurde. Am liebsten hätte Revyn ihn immer für sich behalten, so scheu und wild, wie er war.
Als er den Stall des Drachen erreichte, war er leer. Verdutzt blieb Revyn stehen. Das Stroh auf dem Boden war durcheinandergewirbelt. Helle Schrammen zogen sich über die Holzbretter.
»Er ist weg«, erklang eine Stimme hinter Revyn. Er drehte sich um und entdeckte Lilib auf einem Heuballen sitzen. Sie hatte die Arme um sich geschlungen.
»Wo ist er?«, fragte Revyn.
Ihr Blick war in den leeren Stall gerichtet. »Letzte Nacht, da ist etwas mit ihm geschehen. Er war rasend und wild vor … ja, wovor? Und im Morgengrauen … da war er still. Da war alles still. Ich hab zu ihm reingesehen. Nichts war mehr da. Er ist weg.«
Revyn zog die Augenbrauen zusammen. Ein Drache, der vom Kopf bis zum Schwanz gut vier Meter maß, konnte doch nicht einfach unbemerkt verloren gehen. Lilib schien seine Gedanken zu erraten. »Das weißt du nicht? Es passiert öfter.« Sie stand auf. Ihre Augen schienen dunkler als sonst. »Immer wieder verschwinden welche, und niemand weiß, warum. Wohin …« Revyn erschrak, als er Tränen in ihren Augen entdeckte. So wie er Lilib kannte, weinte sie nicht oft. Er hatte sie für eine durch und durch beherrschte Person gehalten.
»Manche sagen, sie werden geraubt. Es gibt hier in den Wäldern ein Mädchen, heißt es, eine verwunschene Elfe. Sie hat so spitze Zähne wie ein Wolf und entführt Drachen. Vielleicht frisst sie sie, keiner weiß es genau.« Sie schluckte. »Aber weißt du, was ich glaube, Revyn? Ich glaube, es gibt keinen Dieb, keine verdammte Elfe, die nachts einbricht. Es ist ein Zauber.«
»Ein Zauber?«, sagte Revyn ungläubig.
»Es ist irgendein grässlicher Zauber«, wiederholte Lilib. Sie biss fest die Zähne zusammen, und als ihr eine Träne aus dem Augenwinkel rann, wandte sie sich ab und ging ohne ein weiteres Wort.
Am nächsten Morgen hatte man einen neuen Drachen in den leeren Stall gebracht.
Ein paar Tage nach dem Verschwinden des Drachen traf sich Revyn mit Capras, Twit und Jurak mittags unter der Treppe der Soldatenbaracken. Die Zähmer legten nicht viel Wert auf Pünktlichkeit, solange die Arbeit erledigt wurde, und so konnte Revyn kommen und gehen, wie er wollte. Was Capras, Twit und Jurak betraf, so konnte Revyn nur rätseln, wie sie sich davongeschlichen hatten. Twit und Capras waren in der Kampfausbildung, Jurak arbeitete irgendwo in den Ställen der Winddrachen. In beiden Fällen kam es einem kleinen Kunststück gleich, sich erfolgreich zu drücken.
Nun schlenderten sie glücklich durch die belebte Stadt. Es war ein schöner Frühlingstag, der heißeste im ganzen Jahr. Überall standen Türen und Fenster offen, und Tücher waren wie Baldachine über die engen Straßen gespannt, um Schatten zu spenden. Alte Frauen saßen mit Fächern vor ihren Häusern, Kinder spielten Fangen und eine wilde Horde Jungen jagte einer Katze nach. Als sie die Drachenkrieger sahen, wichen sie respektvoll zur Seite und betrachteten voll Ehrfurcht die dunklen Uniformen. Capras knurrte sie an und kicherte, als die Jungen erschrocken davonrannten.
Bald erreichten sie einen Marktplatz. Gemüsehändler, Schmuckverkäufer, streunende Tiere und hier und da ein Drachenkrieger, der sich ebenfalls davongestohlen hatte, füllten den Platz. Und Elfen. Frauen in zerschlissenen bunten Kleidern und mit einem leblosen Lächeln auf den Lippen strichen um die Stände, als suchten sie jemanden. Männer mit strähnigen Haaren standen in den Schatten der Mauern, boten den Vorbeigehenden Messerspiele und Wetten an und versprachen, die Zukunft zu deuten. Eine alte, faltige Elfe, die wie eine Kröte am Straßenrand hockte, hatte rings um sich Pinsel und Farbtöpfchen ausgebreitet, mit denen sie für einen Vierteltaler Drachen und elfische Symbole auf die Haut malte.
Revyn war schon auf einige Elfen in den Schänken Logonds getroffen, doch nie waren es so viele
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