Das Drachentor
die älteren Soldaten kurz davor waren, ihre Kriegsnarben zur Schau zu stellen. Es war höchste Zeit, das Weite zu suchen.
Er stand auf und verabschiedete sich flüchtig von Twit und Capras, die zu vertieft in das laute Gespräch waren, um sein Verschwinden zu bemerken. Jurak war nicht mehr da. Ziellos schlenderte Revyn an großen und kleinen Zelten vorbei, an anderen Feuerstellen, bei denen die Gespräche aber immer dieselben waren, und an Karren und Wagen voll Proviant und Waffen. Schwermütiger Gesang wehte ihm entgegen:
Folge, folge meiner Liebe,
wenn sie in den Kampf heut zieht,
folge dem, den so ich liebe,
und sing in dunklen Nächten ihm dies Lied.
Im Gehen öffnete Revyn die Schnallen an seinen Schulterpanzern und atmete tief die laue Nachtluft ein. Sie roch nach dem Rauch der Feuer, frischem Leder und Stroh.
Folge, folge meiner Liebe,
wenn sie heute kämpfen muss,
bewahre ihn vor jedem Hiebe,
und schick in Trauer ihm mein’ Kuss.
Plötzlich hörte er ein trockenes Schluchzen, das der Wind durch das Konzert der Stimmen trug wie einen schiefen Ton. Revyn blieb stehen. Das Schluchzen war ganz nah. Er horchte und folgte ihm bis zur Rückseite eines kleineren Zelts, wo das Licht der Feuer ein Fleckchen Dunkelheit übersehen hatte.
»… Jurak?«
Jurak schrak zusammen. »Verschwinde, Revyn. Lass mich … lass mich allein.«
»Was ist denn passiert?« Revyns Stimme stockte. Was für eine dämliche Frage. Jurak war soeben der Tod prophezeit worden - und er fragte ihn, wieso er weinte.
Jurak wandte den Kopf in die andere Richtung und lehnte sich gegen die Zeltplane. Langsam kam Revyn auf ihn zu. Er ließ sich neben ihm nieder und zog die Knie an den Körper. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander.
Für ihn, der in den Kampf heut zieht,
dem sing ich dieses Lied!
Für ihn, der noch den Feind heut sieht,
ist schwer, ach, der Abschied!
»Es ist so still«, flüsterte Jurak. Das stimmte keineswegs; die Soldaten übertönten selbst das laute Zirpen der Grillen. Aber Revyn sagte nichts.
»Die ganze Welt ist stumm.« Jurak sah in den Himmel. »Sind nicht die Götter dort über uns? Die Sterne sind ihre Augen … Das haben mir meine Eltern immer gesagt. Sie sehen zu - sie sehen zu und bleiben stumm.« Er vergrub das Gesicht zwischen Händen und Knien, als ihm Tränen über das Gesicht liefen. Stockend legte Revyn ihm eine Hand auf die Schulter. Er hatte noch nie einen Drachenkrieger weinen gesehen, geschweige denn einen getröstet.
»Jurak, Kopf hoch! Dieser dumme Scharlatan, dieser Hochstapler - hast du schon mal von jemandem gehört, der den Tod an den Fingern ablesen konnte? Also, ich nicht, und ich glaube auch nicht daran. Vergiss einfach, was er gesagt hat!«
»Ich habe Angst«, schluchzte Jurak, ohne aufzublicken. »Ich habe Angst vor dem Morgen, denn ich weiß, ich werde sterben. Ich weiß es … Ich sterbe in diesem gottverdammten Krieg!«
»Du wirst nicht sterben! Jurak -« Revyn wusste nicht, was er sagen sollte. Jurak wischte sich die Wangen am Knie trocken und stützte den Kopf auf die Hände. Eine Weile sah er Revyn aus leeren Augen an. »Du fürchtest dich doch auch … oder? Deshalb schaust du immer so, als könnte gleich jemand mit dem Finger auf dich zeigen. Weil du Angst vor dem Kampf hast, oder?«
Revyn senkte den Blick. Er wünschte, es wäre das - er wünschte, er hätte nur Angst vor dem Tod. »Ja«, flüsterte er schließlich. Seine Stimme versagte, er konnte Jurak nicht ansehen.
Jurak nickte und schloss die Augen. »Du bist ein guter Freund, Revyn. Das habe ich von Anfang an gemerkt. Das sollst du wissen.«
Revyn lehnte den Kopf gegen die Zeltplane. Von hier aus konnte er die Sterne sehen, ein weites Feld verstreuter Lichter. »Wir haben alle Angst.«
In den Nebeln
Viel zu früh graute der Morgen. Die Sonne kroch im Osten hoch wie eine bleiche Kupfermünze und vermochte kaum durch die dunstige Luft zu dringen. Als Revyn erwachte, fühlte sich sein Bauch merkwürdig hohl an, doch es war ein Gefühl, das nicht vom Hunger kam. Die Ration Linsen mit Fleisch brachte er kaum hinunter. Ein nervöses Kribbeln in seinen Knien und Armen machte seine Bewegungen hastig und kraftlos. Kalter Schweiß überzog seine Handflächen. An den grauen Gesichtern vieler anderer Krieger erkannte Revyn, dass es ihnen nicht besser ging.
Rasch mobilisierte sich das Heer, das Lager wurde geräumt, die Zelte zusammengebaut, die Drachen und Pferde gerüstet. Revyn legte Palagrin die Schilde
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