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Das Drachentor

Titel: Das Drachentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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er und wiegte den Kopf hin und her, bis selbst Jurak ungeduldig wurde.
    »Sag schon, was siehst du?«, fragte er nervös.
    Der Soldat ließ seine Hand los und blickte ihm eine Weile in die Augen, als suche er dort nach weiteren Hinweisen. »Bist du wirklich bereit, dein Schicksal zu erfahren, mein Junge?«
    »Verdammt noch mal … ja. Ja, ich bin bereit.«
    Der Soldat schlug vielsagend die Augen nieder. »Deine Hände verraten mir, dass du für dein Vaterland das Leben lässt - entweder morgen oder in vielen Jahren, wer weiß. Aber seiner Bestimmung entkommt keiner.«
    Niemand sagte etwas. Im Schein des Feuers wirkte Jurak bleicher denn je. Dann, zögerlich, schloss er die rechte Hand zur Faust und drehte sich zu den Soldaten um. Plötzlich erschien ein Lächeln auf seinen Zügen. Revyn wurde ganz flau im Magen, als ihm auffiel, dass Juraks Gesicht wie ein Totenkopf aussah.
    »Ich glaube nicht ans Wahrsagen«, erklärte er leise, noch immer lächelnd. Die Männer brachen in Gelächter aus. Nur der Wahrsager verzog keine Miene und auch Revyn war nicht nach Lachen zumute. Mit einem unruhigen Gefühl beobachtete er, wie Jurak sich auf seinen Platz zurücksetzte, mit demselben unveränderten Lächeln ins Feuer starrte und Capras zunickte, der die Wahrsagerei zu Unsinn erklärte. Seine rechte Hand war immer noch zur Faust geballt.
    Die schonungslosen Worte des Soldaten schienen die anderen beeindruckt zu haben. Lachend - aber auch sichtlich nervös -, drängten sie sich nun um ihn, damit er in ihrer Hand las. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Hätte es noch Wein gegeben, wäre am morgigen Tag keine Schlacht zustande gekommen.
    Twit begann indessen, seine Theorien über die große Niederlage Myrdhans zu verkünden. Hitzig diskutierte er mit einer Schar weiterer Kampfbegeisterter, und gemeinsam wurde gerätselt, unter welch schweren Umständen sie ihren Heldenmut unter Beweis stellen würden. Capras warf Revyn einen schmunzelnden Blick zu.
    »Ihr Grünschnäbel - auf hören - aufhören mit dem Geschnatter, sage ich!« Meister Morok erhob sich schwerfällig und warf einen abschätzenden Blick auf die Hitzköpfe. »Ihr könnt von Glück reden, dass es noch Sommer ist! Vor neun Jahren - nein, zehn ist es schon fast her -, als die letzte Schlacht zwischen uns und den Myrdhanern ausgefochten wurde und Haradon den Sieg davontrug, war es Winter. Vermutlich wisst ihr jungen Burschen gar nicht, was das bedeutet. So will ich euch denn auf klären. Kurz vor Winter ist in Myrdhan Regenzeit. Einmal im Jahr ist es, als würde der Himmel weinen, und wahrscheinlich weint er über das Land, das unter ihm liegt, denn Myrdhan ist hässlicher als der Hintern meiner Großmutter.« Gelächter brach aus. »So weit das Auge reicht«, Meister Morok kniff die Augen zusammen, »gibt es nichts außer Felsen und Grashügeln. Und nun stellt euch das vor, wenn es unaufhörlich regnet. Damals glaubten wir zu ersaufen, bevor wir dem ersten Myrdhaner gegenüberstünden!« Als er merkte, wie das Interesse der Ersten nachließ, kam er rasch zum Punkt. »Was ich euch begreiflich machen will, euch Jungs, die ihr den Krieg zu kennen glaubt, ist, dass damals ein wahrer Kampf auf Leben und Tod ausgefochten wurde. In der Schlacht strömte der Regen so heftig, dass wir Feind nicht mehr von Freund unterscheiden konnten. Das Blut wurde runtergespült, bis uns die braune Brühe um die Knöchel stand, der Schlamm verklebte uns die schlimmsten Wunden - und die Toten hatten aufgedunsene Gesichter wie aus Hefeteig, sodass selbst die Krähen sie verschmähten. Morgen, ja, morgen erwartet euch ein sanfter Spätsommertag und die Unglückseligen unter euch werden zwischen den Wildblumen ein lieblich duftendes Grab finden!«
    Schon gab es die ersten Widersprüche, und es braute sich ein leidenschaftlicher Streit zwischen alten und jungen Kriegern zusammen, der womöglich die ganze Nacht dauern konnte.
    Revyn schob sich die letzten Bissen Brot in den Mund und beobachtete eine Weile seine rechte Hand. Ob darin wirklich sein Schicksal geschrieben stand …? Wie fast pausenlos in den letzten Stunden wanderten seine Gedanken zu Prinzessin Ardhes. Was sie gesagt hatte, war ihm noch immer ein Rätsel; sie war ihm ein Rätsel.
    In der Schlacht wirst du übrigens nicht sterben. Nie war ihm ein Satz so oft durch den Kopf gegeistert. Er strich sich mit beiden Händen über die Zöpfe, dann versuchte er, nicht mehr an den morgigen Tag zu denken. Als er den Kopf hob, erkannte er, dass

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