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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Essen serviert wurde, prüfte Kobinian, was auf dem Teller lag, dann sagte er, das habe er zwar nicht bestellt, aber seiner Frau zuliebe verzichte er jetzt darauf, seine Bestellung durchzusetzen, weil er wisse, sie liebe Graved Lachs mit sour cream und French fries. Guten Appetit.
    Wir aßen stumm. Roderich glaubte offenbar, er müsse wenigstens den Versuch machen, etwas zu sagen, also sagte er, die neun Schlittenhunde, mit denen Buck auf dem Yukon Trail die 400 Kilometer nach Dawson trabte, seien von ihren zwei Mushern auch mit Lachs gefüttert worden. Jeder nach seinem Körpergewicht. Buck, deutlich schwerer als die mageren Huskys, kriegte jeden Tag eineinhalb Pfund Lachs. Den hatten die Mushers gefroren dabei und wärmten ihn für die Hunde am Lagerfeuer auf.
    Ich bezahlte, wir gingen. Zurück in unserem cabin, legte Kobinian seine Hände auf meine Schultern, sah mir aus nächster Nähe in die Augen und sagte: Maja, ich habe dich das noch nie gefragt, aber einmal, und zwar jetzt, muss ich dich fragen: Willst du bei mir bleiben? Das Ja kam aus mir heraus ohne Zögern, ohne Einschränkung, einfach sofort und ganz und gar. Dann fiel Korbinian aufs Bett und schlief ein, ohne sich noch ausziehen zu können. Ob ich unter diesen Umständen noch ein Auge zutun kann, weiß Gott allein. Wie gesagt, es gibt nichts Schrecklicheres als den Unterschied zwischen einem Kranken und einem Gesunden. Falls es diesen Unterschied gibt.
    Unser Tennessee-Mann hat mir durch die Wirtin ein Briefchen zustecken lassen, nur dass Du weißt, was alles denkbar ist. Da steht:

Große Frau, mein Deutsch ist zu klein für Sie. Ich fahre fort. Voraus. In Inuvik warte ich, bis Sie kommen. Als Ihr Diener. Oder, wenn Sie wollen, als Ihr Herr. Oder, wenn ich darf, als Ihr Diener und Ihr Herr.
    Kind regards,
Christopher

    Lieber Freund, ich grüße aus der Wildnis. Die passt zu dem, was hier passiert.
    Deine Dir alles, sogar sich selbst verständlich machen wollende
Maja

    Von meinem iPhone gesendet

22
    Berlin, 11. August 2011
    Liebe wieder Verschwundene,
    zum dritten Mal! Soll ich daran gewöhnt sein, dass Du immer wieder verschwindest? Wenn Du so dauerhaft fehlst wie jetzt, nämlich drei Wochen, dann fehlt mir das Unmögliche, und ich merke: Ohne Unmögliches kann ich nicht leben. Umgeben von nichts als Möglichem erlischt das Leben selbst.
    Bedenk das, wenn Du weiter schweigst.
    Dein von Dir Abhängiger

23
    Berlin, 17. August 2011
    Liebste Freundin,
    sag dort, dass Du nicht mehr kannst! Die Kilometer! Der Polarkreis. Kehr um. Kehrt zurück in die Zivilisation. Ihr seid in Gefahr. Entschuldige, Du bist in Gefahr. Ich muss Dich retten. Lass Dich retten. Von mir. Bitte. Du wirkst entführt! Bist Du entführt?!
    Dein Freund

24
    21. August 2011
    Liebe Verstummte,
    ich weiß jetzt, dass nichts mehr kommen wird. Mein Vertrauen zu Dir, in Dich ist durch jedes Wort, das Du mir geschrieben hast, so solide, dass ich inzwischen auch auf jedes WARUM verzichten kann. Natürlich frage ich den Apparat immer noch jeden Tag, ob etwas gekommen sei. Aber nicht, weil ich glaube, es könne doch noch etwas gekommen sein. Es ist eine Geste. Ich will die Trostlosigkeit zelebrieren. Das wird es wohl sein.
    Und wenn da ganz drinnen doch noch ein irres Hoffnungsfünkchen glimmt, dann, ohne dass ich das will und weiß.
    Du lebst noch. Wenn Du verunglückt wärst, hätte ich es aus der Zeitung erfahren. Ich werde mich nicht abfinden. Die Sprache ist voller Unwörter.
    Unmöglichkeit, das ist ein großes, schönes, mich aufs liebste umfangendes Wort. Ich habe mit Dir gelebt auf die Unmöglichkeit hin. Du hast mir geschrieben: aus der Tiefe der Unmöglichkeit. Die Unmöglichkeit war unser Tisch und unser Bett. Solange Du mir geschrieben hast, hatte ich einen Wert, den ich, seit Du mir nicht mehr schreibst, nicht mehr habe. An diesen Unwert muss ich mich gewöhnen. Vom eigenen Unwert hat man keinen Begriff. Allenfalls eine Ahnung. Dieser Unwert nimmt zu. Wertlos, das ginge ja noch. Aber unwert! Wenn es Dich nicht mehr gibt (für mich), ist die Unmöglichkeit tot.
    Ich werde Dir, was ich Dir schreibe, nicht mehr schicken. Das ist gelernt. Einen Brief durfte ich Dir immer nur schreiben, wenn Du meinen letzten Brief beantwortet hattest. Das hat aufgehört. Ich kann nicht aufhören.
    B.

25
    Beatus Niederreither hat sich erschossen. Spektakulär. Der Herr der Liebe und des Zorns. In der Karl-Marx-Allee. Sogar die Stelle, an der er sich, im Rollstuhl sitzend, erschossen hat, wurde

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