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Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Das dreizehnte Kapitel (German Edition)

Titel: Das dreizehnte Kapitel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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beschenkt, beglückwünscht haben. Weil mein Fotoapparat streikte, gab die Wirtin mir ihren mit. Ich soll ihn dann in Eagle Plains der Wirtin geben. 350 km!
    An unserer Zeltbespannung wieder der Nougat-Riegel mit einem Brief. Eine Formulierung ist es wert, Dir mitgeteilt zu werden. Ich sei, schreibt er, eine Frau, die ihn an keine andere Frau erinnere. Er müsse mich also für unvergleichlich halten. Deshalb habe er seine Pläne ändern müssen. Er werde auch über Eagle Plains und Fort McPherson nach Inuvik fahren. Er werde uns keinesfalls belästigen. Aber mein Diener zu sein sei immer noch der einzige Wunsch in seinem Leben, das sonst zu einer einzigen Wunschlosigkeit geworden sei.
    Tatsächlich schlägt er jetzt auf jedem Campground sein schwarzes Zelt so auf, dass wir es sehen müssen.
    Als ich Korbinian den Brief vorlesen wollte, sagte er: Verschone mich. Ich hielt den Brief dann so ins Feuer, dass der Schreiber, falls er uns beobachtete, das sah. Aber kaum war der Brief verbrannt, rannte der Platzwart auf uns zu, wir sollten das Feuer sofort löschen, ob wir nicht gehört hätten, absolutes Feuerverbot im Yukon-Territorium, Waldbrandgefahr. Der ganze Süden brennt schon, Whitehorse geht unter im Rauch. 5000 Dollar Strafe für jeden, der noch ein Feuer anzündet. Dass wir keine Nachrichten hören, hat er nicht begreifen können. Keine Nachrichten, das sei lebensgefährlich!
    Heute statt 50 km höchstens 30. Endlose Steigungen, kurze Abwärtsstrecken, und jeder vorbeifahrende oder entgegenkommende Van oder Truck wirbelt den Schotterstaub auf, in dem wir dann um Luft ringen. Und das, obwohl jeder, sobald er uns sieht, sein Tempo drosselt. Und manchmal hält er dann noch, steigt aus und fragt, ob alles in Ordnung sei.
    Gestern sind wir dem ersten Bison begegnet. Neben der Straße trottend.
    Ein Einzelgänger, rief Korbinian. Mein Bruder!
    Ich schaue auf von der Schotterstraße, hin zum Bruder Bison, und stoße mit dem Vorderrad auf einen groben Stein, es reißt mir das Lenkrad aus der Hand, ich falle. Mit Ellbogen und Knie. Gott sei Dank das Schlimmste vermieden. Nur Prellungen. Soll ich stolz sein, dass ich so gut stürzen konnte, oder habe ich jetzt Angst vor dem nächsten Sturz?!
    Korbinian sagte: Schluss für heute. Und schlug das Zelt gleich am nächsten Creek auf, als hätte er nie etwas anderes vorgehabt.
    Als wir lagen, sagte er: Das waren Steigungen, bis zu 14 Prozent. Und ich: Und Gegenwind! Es tue ihm leid, dass er mich so plage. Wenn ich abspringen wolle, rufe er Roderich her.
    Ich konnte nicht sagen: Ja, bitte. Er braucht mich. Oder: Er glaubt, dass er mich brauche. Das merk ich hundertmal am Tag. Und in der Nacht. So erschöpft zu sein ist schön. Die Erschöpfung sitzt hinter der Nase und rauscht in den Ohren.
    Gute Nacht, mein Freund! Dunkel wird es nicht. Und Korbinian schläft.
    Was ich nicht denken will, denke ich nicht. Offenbar soll ich auch an das denken, an das ich nicht denken will. Dafür gibt es ahndende Wörter. Da soll herausgebracht werden, warum ich an das und das nicht denken will. Als wäre eine erkundende Bemühung nötig. Ich kann mühelos aufzählen, an was ich nicht denken will. Das muss ich mir nicht kritisch erklären lassen, warum ich an das und das nicht denken will. Ich sage keinem Menschen, an was ich nicht denken will. Es sind lauter Gedanken, die ins Unangenehme führen. Muss ich an etwas denken, was mich, wenn ich daran denke, leiden macht? Es schiebt sich trotz aller Vermeidungssorgfalt noch genug Leidenschaft in meine Gedankenwelt. Die Motive meiner Gedankenvermeidungen sind mir bekannt. Die muss ich mir nicht erklären lassen. Und: Sie gehen niemanden etwas an. Es sind lachhaft simple Motive und schicksalhaft schwerwiegende. An der Wichtigkeit meiner Gedankenvermeidungen für mich kann ich, muss ich nicht zweifeln. Hätte ich geschrieben, darf ich nicht zweifeln, hätte ich gleich die Verdachtschöpfer, die Unterstellungssüchtigen auf den Meinungsmarktplatz gerufen.
    Ich gebe zu, dass ich manchmal erschrecke, wenn ich mir vorstelle, mir könnte die Kraft, meine Gedankenvermeidungen geheim zu halten, ausgehen. Wenn ich, aus welchen Zerrüttungen auch immer, nicht mehr fähig wäre, meine Gedankenvermeidungen erfolgreich zu praktizieren, wäre ich sofort erledigt. Ich kann, meiner menschlichen Zurechnungsfähigkeit zuliebe, nur hoffen, dass es anderen ganz genau so oder doch ähnlich geht, dass wir also alle die Gedankenvermeidungspraxis pflegen. Das lässt sich

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