Das dreizehnte Kapitel (German Edition)
von Anfang an nicht nötig gewesen. Dann kam’s. Er hat Ludwigs Buch Hoch hinaus gelesen und hat gefürchtet, ich sei verletzbar durch die Art, wie Ludwig über uns schreibe. Er könne mir nicht raten, das Buch zu lesen oder nicht zu lesen. Aber sagen müsse er endlich, dass ihn die Art, wie Ludwig über uns schreibe, glücklich gemacht habe. Ludwig schone uns nicht, aber er schone auch sich selber nicht, und diese nie gemilderte Schonungslosigkeit mache aus dem Ganzen ein grandios ehrliches Buch. Keiner, der darin vorkomme, dürfe sich eine geschönte Sonderrolle wünschen. Ludwig lüge an keiner Stelle. So seien wir alle gleich. Aber er, Korbinian, fürchte eben, dass ich, wenn ich das Buch läse, dieser Erinnerungsforschung eine verlogen schön gefärbte Darstellung vorzöge. Deshalb empfehle er mir doch, das Buch nicht zu lesen. Was für ein Freund, rief er aus.
Ich sagte, mir fehle Ludwig nicht.
Mir schon, sagte Korbinian.
Ich sah, dass Ludwig mit seinem Hoch hinaus Korbinian sozusagen endgültig besiegt hat. Korbinian konnte ihm nichts übel nehmen. Das ist Liebe.
Ich schlug vor, sofort noch einmal aufzustehen und in der Zeltplatz-Bar noch etwas zu trinken. Und nicht nur etwas, sondern viel. Ohne viel Whiskey wisse ich nicht, wie wir von diesem Erinnerungsforscher zurückfinden könnten zu uns.
Wir haben ungeheuer viel getrunken. Chivas Regal. Trinkt sich wie Alpenmilch. Korbinian lud ein. Das ganze Lokal. Als einige zögerten, seine Einladung anzunehmen, rief er: Da ihr keine Ahnung habt, sage ich euch, in North Carolina produzieren sechshundert fleißige Amerikaner mein Medikament, das alle Amerikaner jeden Morgen zum Frühstück essen wie das tägliche Brot. Er könnte, wenn er wollte, diese Lodge kaufen und sie verschenken. Will er aber nicht. Ich will nur mit euch trinken. Und zwar allen Chivas Regal, den Evelyn im Haus hat. Versteht ihr mich, allen. Und wenn ihr nicht mit mir trinkt, muss ich Evelyns Chivas Regal allein trinken. Und zwar allen. Das würde mich umbringen. Also, wer nicht mit mir trinkt, will mich umbringen. Wollt ihr mich umbringen? Alle tranken mit.
So habe ich Korbinian noch nie erlebt. Ludwig, dachte ich, der reine Ludwig. Im Ton, in jeder Geste. Es war schrecklich.
In der nächsten Nacht träumte ich von Ludwig, konnte aber diesen Traum Korbinian nicht erzählen. Dir aber schon.
Ludwig kam, nahm mich mit, öffnete eine Tür, in dem Zimmer kniete Luitgard, kniete nackt vor einem Spiegel und sagte, als sie uns sah: Warum hast du das nicht gesagt, dass du nicht allein kommst. Das sagte sie nicht vorwurfsvoll, sondern zärtlich.
Wenn ich zurück bin, überlegen wir, Du und ich, ob ich Korbinian diesen Traum erzählen soll oder nicht.
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Dawson City, 3. Juli 2011
Gestern das Interview! In einem Satz: Du hast recht, ich habe mich genau so benommen, wie Du es beschrieben hast. Der Reporter verriet mit jeder Frage, was er von einer deutschen Bicyclerin hören wollte, und ich lieferte genau das. Höflich. Selbst wenn ich von der Mühsal der Fahrerei sprach, tat ich, als gäbe es nichts Schöneres, als auf endlosen kanadischen Straßen die eigene Kondition im Ertragen kennen und lieben zu lernen. Sodass ich als Professorin der Theologie diese selbstverordnete Qual eine Erfahrung von unschätzbarem Wert nannte. Die Zeit danach wird uns zeigen, was wir vorher waren und was wir jetzt sind. Usw. Von der wirklichen Härte dieser Endlosigkeitsfahrten keine Spur. Dass ich doch nur wegen Korbinian fahre! Ich fahre doch nur, um ihm zu zeigen, dass ich bei ihm bin, egal, wohin es geht.
Übermorgen brechen wir auf. Dempster Highway. Roderich meldet, dass da, wo der Highway beginnt, auf einer Tafel steht: Warnung! Keine Nothilfsdienste auf dieser Strecke.
Von meinem iPhone gesendet
19
Tombstone Mountain Campground, 5. Juli 2011
Lieber Freund,
es geht mir nach, dass Korbinian sich so gequält hat, bis er mir sagen konnte, er habe Hoch hinaus gelesen. Was bin ich doch für eine empfindungsarme Person! Und was für eine Theologin! Ich habe entschieden, dass es für ihn besser ist, das Buch nicht zu lesen, habe meine Lektüre verschwiegen, weggelogen, und jetzt hat ihn das Buch doch noch erreicht, bewegt, begeistert! Ich habe meine Verlegenheit im Whisky ertränkt. Dass das gelang, war auch eine Erfahrung.
Die Schweizerin hat zu unserem Abschiedsfrühstück alle eingeladen, die wir kennengelernt hatten. Erstaunlich, wie viele das waren, die uns überholt,
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