Das Dunkel der Seele: Die Erleuchtete 1 - Roman (German Edition)
neben dem goldenen Flügel eine Scherbe aus der Haut. Seit wir uns kennengelernt hatten, fühlte sich das Schweigen zwischen uns zum ersten Mal … seltsam an. Ich wünschte mir so sehr, diese Stille zu durchbrechen, wusste aber nicht, was ich sagen sollte. So wollte ich mich in Lance’ Gesellschaft nicht fühlen.
»Hier bin ich fertig«, erklärte ich schließlich. »War es das? Oder hast du noch irgendwelche Kratzer?«
»Nein, und danke.« Er griff bereits nach seinem T-Shirt.
»Ich geb dir ein paar davon mit«, murmelte ich und suchte ein paar Mullbinden für ihn zusammen. »Na ja, und du solltest vielleicht deine Klamotten …« Mit einer Handbewegung warf ich die offene Flasche Desinfektionsmittel um, nach der er sich unwillkürlich bückte. Ich sah zu ihm rüber und sog scharf den Atem ein.
Auf Lance’ nackten Schultern entdeckte ich dieselben Narben, die ich auch trug.
Er bemerkte meine Reaktion und erstarrte. Dann richtete er sich ganz, ganz langsam wieder auf, bis er mir in die Augen sah. Er reichte mir die Flasche, die ich auf den Schreibtisch stellte, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Das wollte er also vor mir verbergen. Mehr brauchte ich nicht, um es zu begreifen: Er war wie ich. So musste es einfach sein. Sollte ich es ihm sagen? Dann setzten wir beide gleichzeitig zum Sprechen an, und ich ließ ihm schließlich den Vortritt.
»Es gibt da ein paar Sachen, die du nicht über mich weißt.« Er zuckte mit den Achseln und suchte nach den richtigen Worten. »Und die verstehe ich ja nicht einmal selbst.«
»Die Narben habe ich schon mal gesehen.« An meiner Uniform mochte ich ja normalerweise gerade, dass sie die Striemen auf meiner Haut so gut verdeckte, aber jetzt hätte ich sie Lance gerne gezeigt.
»Hast du?« Er sah verwirrt aus und fragte sich, wann er sie möglicherweise vor mir entblößt hatte.
»Bei mir selbst.«
Lance riss die Augen auf, und ihm klappte der Unterkiefer herunter. »Weißt du … weißt du, was sie bedeuten?«, stammelte er und sah sich mit einem Mal um, so als wolle er sichergehen, dass uns niemand belauschte.
Ich nickte. »Ja. Und du?«
Er bestätigte es ebenfalls mit einer Kopfbewegung. »Wenn auch noch nicht lange.«
Wir seufzten beide.
»Vielleicht sollten wir besser mal alle unsere Infos zusammentragen«, murmelte ich.
»Ja, das ist wohl der Schwachpunkt in unserer Lerngruppe.«
»Okay, gibt es noch andere Geheimnisse, über die ich im Bilde sein sollte?«
Seine Antwort kam zögerlich, was ich als Bestätigung auffasste. Er ließ die Schultern hängen und beschloss dann wohl endlich, mich einzuweihen. Mit einer Geste forderte er mich auf, ihm zu folgen, und ging zur Tür.
In seinem Zimmer öffnete er die Schreibtischschublade, holte einen Stapel Postkarten hervor und reichte sie mir. Ich schaute sie durch – jede zeigte ein anderes Bild von Chicago und Wahrzeichen der Stadt, und bei allen handelte es sich um alte Aufnahmen. Ich drehte sie um, aber sie waren unbeschrieben.
»Ich weiß, das klingt jetzt verrückt, aber wenn keiner da ist und ich allein bin, stehen da Nachrichten drauf. Sie erscheinen einfach so. Und immer ohne Unterschrift.«
»Was für Nachrichten?«
»Ach, du weißt schon, das Übliche: Ich wünschte, du wärst hier; du bist in Gefahr; du bist kein gewöhnlicher Außenseiter, du bist irgend so ein verdammter Engel . Und dann heißt es meistens, dass ich den Ball flach halten und mich an dir orientieren soll. Du bist quasi die Anführerin oder so.«
»Echt jetzt?«
»Ja. Und komischerweise stand da auch, dass ich dieses Ding nicht gefunden habe, sondern dass es mich gefunden hat.« Er hielt seine Manschette hoch.
»So war das mit dem Anhänger angeblich auch.« Ich zog meine Kette hervor.
»Das ist vermutlich unsere Mitgliedskarte für den Club.«
»Wo hast du die denn her?« Ich hielt den Stapel Postkarten hoch.
»Sie lagen in der gleichen Kiste wie dein Buch, und es stand mein Name drauf.«
»Ja, dieses Buch …« Ich dachte kurz darüber nach. »Das wäre jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt, das mal zu erwähnen: Darin erscheinen nämlich Nachrichten für mich, wie auf deinen Postkarten.«
»Wie bitte?«
»Ja. Ich dachte, du würdest mich für verrückt halten, deshalb habe ich bis jetzt nichts gesagt.«
»Das kommt mir bekannt vor«, seufzte er und tat die Sache dann mit einer Handbewegung ab. »Und, stand da irgendwas Interessantes drin?«
Das wäre wohl der perfekte Moment, um es zu erwähnen: »Na ja, der zentrale
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