Das dunkelste Blau
schaute auf den Ort hinunter, aber ich sah, daß er einen verstohlenen Seitenblick auf meine Arme warf.
»Wo wohnen Sie?« fragte ich.
Er zeigte auf ein anderes Haus am Berg und sah wieder auf meine Arme.
»Es ist Schuppenflechte«, sagte ich abrupt.
Er nickte einmal; er war kein gesprächiger Mensch. Ich bemerkte Strähnen mit weißer Farbe in seinem Haar und auf seinen Unterarmen einen Nebel weißer Spritzer, die von einem Rollpinsel kamen. Ich mußte an meine Umzüge mit Rick denken: Wenn wir irgendwo neu hinzogen, strichen wir immer zuerst alle Zimmer weiß. Rick sagte, daß er so die Dimensionen der Räume besser erkennen konnte; für mich war es, wie wenn sie damit von Geistern gereinigt würden. Erst nachdem wir irgendwo eine Zeitlang gewohnt hatten, wenn die Wohnung uns vertraut wurde und wir uns darin wohl fühlten, fingen wir an, die Räume in verschiedenen Farben zu streichen. Unser Haus in Lisle war noch weiß.
Der Anruf kam am nächsten Tag. Ich weiß nicht, warum er mich so überraschte: Ich wußte doch, daß mein anderes Leben mich irgendwann einholen würde, hatte aber nichts getan, um mich darauf vorzubereiten.
Wir waren gerade beim Fondue. Susanne hatte es lustig gefunden, daß nach Schweizer Taschenmessern, Uhren und Schokolade Fondue an vierter Stelle von all den Dingen stand, die Amerikaner mit der Schweiz assoziieren, und sie hatte darauf bestanden, es für mich zu machen. »Nach einem alten Rezept der Familie, bien sûr «, neckte sie. Sie und Jacob hatten ein paar Leute eingeladen: Jan war natürlich da, dann ein deutschschweizerisches Paar, die Nachbarn mit den blauen Fensterläden, wie sich herausstellte, und Lucien, der neben mir saß und ab und zu mein Profil betrachtete, während wir aßen. Wenigstens hatte ich meine Arme bedeckt, so daß er die Schuppenflechte nicht anstarren konnte.
Ich hatte erst einmal Fondue gegessen, als ich jünger war und meine Großmutter es gemacht hatte. Ich hatte kaum eine Erinnerung daran. Das von Susanne war hervorragend und hatte viel Alkohol drin. Außerdem hatten wir ununterbrochen Wein getrunken und wurden immer lauter und verrückter. Irgendwann tauchte ich ein Stück Brot in den Käse, und meine Gabel kam leer wieder heraus. Alle fingen an zu lachen und klatschten.
»Moment, wie war das noch mal?« Dann erinnerte ich mich an die Überlieferung, die ich von meiner Großmutter gehört hatte: Wer sein Brot zuerst im Fonduetopf verliert, wird nie heiraten. Ich lachte auch. »O nein, jetzt werde ich nie heiraten! Aber ich bin doch schon verheiratet!«
Das Gelächter wurde lauter. »Nein, nein, Ella«, rief Susanne. »Wenn du dein Brot zuerst verlierst, heißt das, daß du heiraten wirst , und zwar bald!«
»Nein, in unserer Familie heißt es, daß du nicht heiratest.«
»Aber das hier ist deine Familie«, sagte Jacob, »und die Überlieferung ist, daß du heiraten wirst.«
»Dann müssen wir das irgendwo mißverstanden haben. Ich bin sicher , daß meine Großmutter gesagt hat –«
»Ja, das ist genauso falsch wie auch der Familienname falsch ist«, erklärte Jacob. »Töörr-nörr«, sagte er absichtlich schwerfälligund zog jede Silbe in die Länge. »Wo sind die Vokale, die ihm einen schönen Klang geben? Aber mach dir nichts draus, ma cousine , du weißt ja, wie dein richtiger Name heißt. Wißt ihr«, fuhr er an seine Nachbarn gewandt fort, »daß meine Cousine Hebamme ist?«
»Ah, was für ein schöner Beruf«, erwiderte der Mann automatisch. Ich fühlte Susannes Blick auf mir; als ich sie anschaute, sah sie zu Boden. Ihr Weinglas war immer noch voll, und sie hatte nicht viel gegessen.
Als das Telefon klingelte, stand Jan auf und nahm ab. Er blickte um den Tisch herum, bis seine Augen an mir hängenblieben. Er hielt mir den Hörer hin. »Dieser Anruf ist für dich, Ella«, sagte er.
»Für mich? Aber –« Ich hatte niemandem die Telefonnummer gegeben. Ich stand auf und nahm den Hörer, aller Augen waren auf mich gerichtet.
»Hallo?« sagte ich unsicher.
»Ella? Was zum Teufel machst du da?«
»Rick?« Ich wandte mich mit dem Rücken zum Tisch.
»Das klingt ja, als ob du überrascht wärst, von mir zu hören.« Nie hatte er so bitter geklungen.
»Nein, es ist nur – ich hatte keine Telefonnummer hinterlassen.«
»Nein, das hast du nicht. Aber so schwer ist das nicht, die Telefonnummer von Jacob Tournier in Moutier herauszubekommen. Es gibt zwei im Verzeichnis; ich habe zuerst den falschen angerufen, und er hat mir gesagt, daß
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