Das dunkelste Blau
genau weiß, daß ich diejenige wäre, die sich um sie kümmern müßte.«
Das kam mir bekannt vor.
»Weiß sonst irgend jemand davon?«
»Nein.«
Ich zögerte, es war ungewohnt für mich, über Abtreibung zu sprechen: Wenn sonst schwangere Frauen zu mir kamen, hatten sie sich bereits für das Baby entschieden. Außerdem wußte ich nicht einmal das Wort für Abtreibung.
»Was für Möglichkeiten gibt es noch?« fragte ich lahm und drückte es zumindest andeutungsweise aus.
Sie starrte auf die Tasten. Dann zuckte sie die Achseln. »Un avortement«, sagte sie tonlos.
»Und was hältst du von – einer Abtreibung?« Ich hätte mich ohrfeigen können für die Plumpheit meiner Frage. Susanne schien das nicht zu bemerken.
»Oh, ich denke, ich würde es machen wollen, obwohl mir der Gedanke nicht gefällt. Ich bin nicht religiös. Aber Jan –«
Ich wartete.
»Na ja, er ist Katholik. Er geht nicht mehr in die Kirche und hält sich für liberal, aber – es ist anders, wenn es eine echte,eigene Entscheidung ist. Ich weiß nicht, was er davon halten wird. Vielleicht kann er es nicht ertragen.«
»Weißt du, sagen mußt du es ihm, er hat ein Recht darauf, aber du mußt das nicht mit ihm zusammen entscheiden. Du mußt entscheiden, was du tun willst. Natürlich ist es besser, wenn ihr einer Meinung seid, aber wenn nicht, muß es deine Entscheidung sein, denn du trägst das Baby.« Ich versuchte, das so fest wie möglich zu sagen.
Susanne sah mich von der Seite an. »Hast du – hast du selber mal –«
»Nein.«
»Willst du Kinder haben?«
»Ja, aber –« Ich wußte nicht, wo ich anfangen sollte. Auf einmal fing ich an zu kichern. Susanne sah mich verwundert an, das Weiße in ihren Augen leuchtete im Licht der Straßenlaterne. »Entschuldige. Ich muß mich hinsetzen«, sagte ich. »Dann erzähl ich’s dir.«
Ich setzte mich in einen der Lehnsessel, während Susanne eine kleine Lampe auf dem Klavier anknipste. Sie rollte sich in der Ecke des Sofas zusammen, zog die Beine hoch und breitete die grüne Seide über ihre Knie. Erwartungsvoll sah sie mich an. Wahrscheinlich war sie erleichtert, daß es jetzt nicht um sie ging.
»Mein Mann und ich haben über Kinder gesprochen«, fing ich an. »Wir dachten, daß der richtige Zeitpunkt gekommen wäre. Na ja, eigentlich dachte ich das, und Rick war einverstanden. Also fingen wir an, es zu versuchen. Aber ich war – abgelenkt. Durch einen Alptraum. Und jetzt, jetzt denke ich – na ja, jetzt haben wir Probleme. Es gab da auch – es gibt – noch etwas anderes. Jemand anderen.« Ich schämte mich, war aber gleichzeitig erleichtert, es jemandem erzählen zu können.
»Wen?«
»Einen Bibliothekar in dem Ort, wo ich wohne. Wir haben eine Zeitlang – geflirtet. Und dann haben wir –« Ich machte eineGeste. »Danach fühlte ich mich schrecklich und mußte weg. Also bin ich hierhergekommen.«
»Sieht er gut aus?«
»Er – o ja. Finde ich zumindest. Er ist irgendwie – sehr intensiv.«
»Und du magst ihn.«
»Ja.« Es war merkwürdig, über ihn zu sprechen; ich fand es eigentlich schwer, ihn mir jetzt vorzustellen. Hier, in diesem Zimmer mit Susanne, schien das, was mit Jean-Paul passiert war, plötzlich nicht mehr so weltbewegend. Seltsam: wenn man seine Geschichte anderen erzählt, wird sie fiktiver, weniger real. Der Akt des Erzählens entfernt einen vom eigentlichen Ereignis.
»Wie lange bist du schon mit Rick verheiratet?«
»Zwei Jahre.«
»Und der andere, wie heißt er?«
»Jean-Paul.« Es lag etwas so Entscheidendes in seinem Namen, daß ich lächeln mußte, als ich ihn sagte. »Er hat mir geholfen, meine Familiengeschichte zu erforschen«, fuhr ich fort. »Er streitet viel mit mir, aber das ist, weil er sich für mich interessiert, auch dafür, was ich mache – nein, eigentlich dafür, wer ich bin. Er hört mir zu. Er sieht mich , nicht irgendein Bild von mir. Verstehst du?«
Susanne nickte.
»Und ich kann mit ihm reden. Ich habe ihm sogar von dem Alptraum erzählt, und er ließ mich ihn genau beschreiben. Das hat mir sehr geholfen.«
»Worum geht es in diesem Alptraum?«
»Oh, ich weiß nicht. Er hat keine richtige Geschichte. Nur ein Gefühl, wie ein – wie wenn ich keine – respiration –« Ich klopfte mir auf die Brust. Frank Sinatra, dachte ich. Ole blue eyes.
»Und ein Blau, ein bestimmtes Blau«, fügte ich hinzu. »Wie in Renaissance-Gemälden. Die Farbe, in der sie den Mantel der Jungfrau gemalt haben. Es gibt da so einen Maler – sag
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