Das dunkelste Blau
stand mit ausgebreiteten Armen da, eine Reihe von Aposteln befand sich unter ihm, blasse Heiligenscheine umrahmten ihre Köpfe, manche der Gesichter waren bis zur Entstellung verwaschen –, aber außer dem schwachen Abbild einer traurig aussehenden Frau auf einer Seite ließen die Fresken mich kalt.
Als ich herauskam, sah ich Jacob vor einem Grabstein auf halber Höhe des Hügels stehen; er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Ich sah ihm einen Augenblick lang zu und schämte mich meiner eigenen Sorgen. Dies hier war eine echte Tragödie, ein Mann, der am Grab seiner Frau trauerte. Um ihn nicht zu stören, ging ich zurück in die Kapelle. Eine Wolke hatte sich über die Sonne geschoben, und es war drinnen noch dunkler; die Fresken schwebten wie Geister über mir. Ich stand vor den verblaßten Zügen der Frau und sah sie mir genauer an. Es war wenig von ihr übrig: Augen unter schweren Lidern, eine große Nase, geschürzte Lippen, ein Mantel und ein Heiligenschein. Aber gerade diese Bruchstücke fingen ihr Unglück genau ein.
»Natürlich. Die Jungfrau«, sagte ich leise.
Irgend etwas in ihrem Ausdruck ließ sie anders erscheinen als die Jungfrau von Nicolas Tournier. Ich schloß die Augen und versuchte mich zu erinnern: Der Schmerz, die Resignation, der seltsame Friede in ihrem Gesicht. Ich öffnete die Augen und schaute die Figur vor mir nochmals an. Dann sah ich es: Es war der Mund, die angespannten Mundwinkel, die sich nach unten bogen. Diese Jungfrau war wütend.
Als ich die Kapelle verließ, war die Sonne wieder hervorgekommen und Jacob war verschwunden. Ich ging durch ein neueres Wohnviertel in die Stadt zurück und kam schließlich bei der protestantischen Kirche an, die ich zuerst gesehen hatte, als ich in Jacobs Haus aufgewacht war. Es war ein großes Gebäude, aus Kalkstein gebaut und von alten Bäumen umgeben. In gewisserWeise erinnerte es mich an die Kirche in Le Pont de Montvert: Beide hatten eine ähnliche Lage im Verhältnis zum Ort – nicht in der Mitte, aber trotzdem dominant, auf halber Höhe an der Nordseite eines Hanges, mit einem grasbewachsenen Vorplatz und einer Mauer, auf der man sitzen und über den ganzen Ort hinwegsehen konnte. Ich ging um die Kirche herum und fand die Eingangstür offen. Drinnen gab es mehr Schmuck als in der Kirche in Le Pont de Montvert, Marmorboden und buntes Glas im Chor. Trotzdem wirkte sie nackt, asketisch und, nach der Chalières-Kapelle, groß und unpersönlich. Ich blieb nicht lange.
Ich setzte mich auf die Mauer in die Sonne, genau wie damals in Le Pont de Montvert. Es war inzwischen warm geworden, und ich zog meine Jacke aus. Darunter zeigten meine Arme wieder Psoriasis. »Verdammt«, murmelte ich. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, streckte sie dann aus und hielt sie in die Sonne. Durch die Bewegung füllte sich ein Fleck auf meinem Arm mit Blut.
In diesem Moment kam ein schwarzer Labrador auf mich zu, krabbelte halb auf die Mauer und stupste seinen Kopf gegen meine Seite. Ich lachte und streichelte ihn. »Genau der richtige Moment, Hund«, sagte ich. »Laß mich bloß nicht in Selbstmitleid versinken.«
Lucien erschien auf der anderen Seite des Rasens. Jetzt konnte ich ihn deutlicher sehen als am Abend zuvor. Er hatte ein kindliches Gesicht, dunkles, drahtiges Haar und große haselnußbraune Augen. Er mußte um die Dreißig sein, aber er sah aus, als hätte ihn nie irgendeine Sorge oder Tragödie berührt. Ein unschuldiger Schweizer. Ich sah zu Boden, ließ meine Schuppenflechte aber absichtlich unbedeckt. Ich entdeckte einen weiteren Fleck auf meinem Knöchel und verfluchte mich, daß ich vergessen hatte, die Cortisonsalbe einzupacken.
»Salut, Ella« , sagte er und stand unbeholfen herum, bis ich ihn einlud, sich zu setzen. Er trug alte Shorts und ein T-Shirt; beides war mit Farbklecksen übersät. Der Labrador sah uns an,hechelte und wedelte mit dem Schwanz; als er sicher war, daß wir nicht weggehen würden, fing er an, die Bäume in der Nähe zu beschnüffeln.
»Sind Sie Maler?« fragte ich, um das Schweigen zu brechen, und war gespannt, ob er je von Nicolas Tournier gehört hatte.
»Ja«, erwiderte er. »Ich arbeite da oben.« Er zeigte hinter uns den Berg hinauf. »Sehen Sie die Leiter?«
»Ah, ja.« Ein Maler, der Häuser anstrich. Das sollte eigentlich nichts ändern, dachte ich, aber meine Fragen erstarben; ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte.
»Ich baue auch Häuser. Ich repariere alles mögliche.« Lucien
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