Das dunkle Haus: Kriminalroman (Ein Erik-Winter-Krimi) (German Edition)
Scheiß, zuerst kam der Scheiß und dann kamen die Tränen, und nicht einmal ein Mörder konnte seine Tränen kontrollieren.
»Du glaubst nicht, dass es Krol war, oder?«, fragte Öberg.
»Ich weiß es nicht, ich glaube nicht, aber … nein, er war es nicht. Es sind nicht seine Tränen.«
»Die neuen Fingerabdrücke, die wir in dem Zimmer im Obergeschoss gefunden haben, stammen von ihm«, sagte Öberg. »Die Nachricht ist heute Morgen gekommen.«
»Trotzdem war er es nicht«, sagte Winter. »Der Mörder hat ihm den Schlüssel gegeben.«
Der Streifenwagen brachte Winter nach Amundövik. Ihm ging es immer noch ganz gut, als hätte das frische Blut der Transfusion das kleine Extra bewirkt, vielleicht stammte es von einem Radfahrer, Lance Armstrong, einem gedopten Radfahrer.
Das Blut war noch auf der Treppe, sein kostbares Blut. Winter spürte nichts, als er darüber hinwegstieg, das mochte der Schock sein, Doping oder Professionalität oder einfach Flucht vor der Wirklichkeit.
Als er in Krols Schlafzimmer stand, hörte er draußen die Möwen, das heisere Gelächter drang in das karge Zimmer wie ein Soundtrack zu einem Horrorfilm, und Winter merkte, dass sich sein Puls beschleunigte. Er setzte sich auf das Bett, hörte das Dröhnen zwischen den Ohren, versuchte an das Bücherregal zu denken, das er auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers neben dem Fenster sah. Nach einigen Minuten stand er auf und ging zu dem Regal, das etwa dreißig Bände enthielt, Bücher, einige Ordner, die Rücken wie Bücher hatten, Alben, vielleicht Fotoalben. Er zog eins heraus, legte es auf einen kleinen Tisch daneben, schlug die erste Seite mit der linken Hand auf und sah ordentlich nebeneinander eingeklebte Fotos, Schwarzweißbilder, alte Erinnerungen wie aus einer anderen Zeit. Winter dachte an das Foto von Sandra im Bootshafen. Likander hatte gesagt, dass er es nicht geschickt hatte. Wie viele außer ihm kannten den Bootshafen? Und was hatte er ihr bedeutet?
Der Vater natürlich.
Und ihr Mann.
Langsam blätterte er Seite für Seite im ersten Album um. Er erkannte Krols Gesicht, ein noch junges Gesicht. Alle anderen kannte er nicht. Die Bilder schienen streng chronologisch angeordnet zu sein. Unter jedem Bild stand ein kurzer Text, nur einige Wörter.
Was hat mich hierhergeführt? Die Vergangenheit natürlich. Wir sind noch nicht allen den ganzen Weg zurück in ihre Vergangenheit gefolgt. Nicht allen!
Er war beim letzten Bild im ersten Album angekommen. Robert Krols Leben. Das allerletzte Foto zeigte einen Mann mit einem Baby auf dem Arm. Das Kind schien nur wenige Wochen alt zu sein. Der Kopf des Mannes war mitten durch die Stirn abgeschnitten. Er trug einen Anzug, das Kind ein weißes Kleid, ein Taufkleid, dachte Winter. Er las den Text: »Mein Patensohn«. Das war alles. Er betrachtete das Gesicht des Mannes. Es war der junge Krol. Kein Lächeln, nur großer Ernst, der mit der formellen und feierlichen Bildunterschrift übereinstimmte. »Mein Patensohn.« Das Baby schien zu schlafen.
Winter schloss die Augen, hörte wieder die Lachmöwen, vielleicht noch ein anderes Geräusch. Er hob das Album vom Tisch, und dabei fiel es ihm aus der Hand.
Er sah auf die Uhr. Er war schon viel länger hier, als er geglaubt hatte. Es würde noch länger dauern.
Etwa in der Mitte des zweiten Albums sah er sie wieder zusammen.
Zwei Männer standen an Deck eines Schiffes, die Arme umeinander gelegt, der eine älter, der andere jünger, sie lächelten beide. Der ältere war Krol, der jüngere war Jovan Mars.
Sie lehnten an der Reling. Hinter ihnen erkannte Winter ein Stück Meer und einige Speichergebäude, Kräne, einen Gabelstapler, das Schiff lag in einem Hafen. Er las die Bildunterschrift, jetzt in einem anderen Ton, nicht ganz so ernst: »Der Pate bekommt Besuch von seinem Sohn«.
Am Nachmittag saß Winter an Krols Bett und verhörte ihn. Vertauschte Rollen, dachte Winter. Krols Sprache war vernuschelt, für das Verhör würde nicht viel Zeit bleiben.
»Sie haben also überlebt«, sagte Krol.
»Ich habe Hilfe bekommen«, sagte Winter.
»In letzter Sekunde«, sagte Krol.
»So kann es gehen.«
»Was wollen Sie noch von mir? Es ist doch alles geklärt?«
»Nicht ganz.«
»Ich kann jetzt nicht denken, Schutzmann. Sie müssen wiederkommen. Es ist ja sowieso alles vorbei.«
Winter schwieg.
»Falls Sie sich über die Zeitungen wundern, da habe ich geschwindelt. Ich dachte … ja, man kann sagen, wollte ein Alibi beschaffen, ich
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