Das dunkle Paradies
heißt ja noch lange nicht, dass wir nicht zusammen zu Mittag essen können«, sagte sie und ihre Stimme klang genauso fröhlich, wie ihr Lächeln aussah. Jesse hatte im Moment keinen großen Hunger, aber er biss in sein Sandwich, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.
Jo Jo Genest betrat das Restaurant und setzte sich an den Tresen. Er trug ein ärmelloses, schwarzes T-Shirt und seine Armmuskeln wölbten sich obszön. Er drehte sich auf dem Barhocker herum und lehnte sich, die Ellbogen auf den Tresen gestützt, mit dem Rücken gegen die Theke und blickte Jesse an. Jesse kaute seinen Bissen vom Sandwich zu Ende und sah Jo Jo an. Er war ein Großstadtcop und hatte schon lange den ausdruckslosen Blick des Großstadtcops verinnerlicht. Jo Jos Gesichtsausdruckwar mehr wie ein einfältiges Grinsen, dachte Jesse. Sie starrten sich etwa eine Minute lang an, die Abby, die dasaß und das Ganze beobachtete, wie eine Stunde vorkam. Dann drehte sich Jo Jo ganz langsam auf seinem Hocker herum, bis er vor dem Tresen saß, und bestellte ein Steaksandwich.
»Hast du keine Angst vor ihm?«, fragte Abby vorsichtig.
Jesse zuckte mit den Schultern.
»Zum Teufel«, sagte sie, »hör auf, mit den Schultern zu zucken. Ich hab dir eine Frage gestellt und will eine Antwort.«
Jesse gefiel die Art nicht, wie sie mit ihm sprach, und er zeigte es mit dem Blick, den er ihr zuwarf. Aber Abby hielt ihm stand.
»Erzähl mir von dir, Jesse. Ich will dich kennenlernen.«
»Was gibt’s da kennenzulernen?«
»Nun, zum Beispiel, ob du Angst vor Jo Jo Genest hast.«
Jesse atmete durch die Nase tief ein und aus. Seine rechte Hand lag auf der Tischplatte. Er tippte mehrmals mit den Fingern darauf, als würde er den Takt einer Musik schlagen, die Abby nicht hören konnte. Sie wartete.
»Einerseits«, sagte Jesse, »ist Jo Jo groß und stark und dumm und böse und er ist sauer auf mich. Ich wäre ein Trottel, wenn ich keine Angst vor ihm hätte. Andererseits könnte ich ihn, falls es nötig wäre, ganz einfach erschießen, als wäre er klein und schwach und nett und freundlich.«
»Und das würdest du wirklich tun?«
»Das würde ich tun.«
»Hast du schon mal auf jemanden geschossen?«
»Ja.«
»Ihn getötet?«
»Ja.«
»Möchtest du mir davon erzählen?«
Jesse rutschte unruhig auf seinem Sitz herum.
»Er hatte eine Machete«, sagte er dann. »Das war vor neun Jahren.«
»Damals warst du wie alt? Sechsundzwanzig?«
Jesse nickte. Abby wartete. Jesse sprach nicht weiter.
»Du hast ihn also erschossen?«, fragte sie.
»Ja.«
»Wolltest du es tun?«
»Ja.«
»Du hast nicht versucht ihn zu verwunden, du weißt schon, ins Bein zu schießen oder so was?«
»Wenn man schießt, schießt man immer, um jemanden zu töten. Es ist nicht so wie im Kino. Es ist immer eine extreme Krisensituation. Du hast ungefähr eine halbe Sekunde Zeit zu entscheiden, was zu tun ist. Dein Herz schlägt bis zum Hals, du kannst nicht schlucken. Dein Atem stockt und dir gegenüber steht so ein Typ mit einer Machete. Du zielst in die Mitte dieses Monstrums und versuchst gleichzeitig, den Abzug nicht durchzudrücken.«
Abby nickte langsam, während sie ihn ansah.
»Wenn ich dich so reden höre«, sagte sie, »spüre ich es wieder.«
»Was spürst du?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich hab es bemerkt, als wir uns geliebt haben. Ich glaube, ich dachte so was Ähnliches wie ›Oh, ist er stark‹. Aber das war es nicht.«
»Jenn sagte, ich wäre heftig.«
Abby nickte. »So was in der Art. Ich nehme an, man muss so veranlagt sein, wenn man Polizist ist.«
»Vielleicht bin ich Polizist geworden, weil ich so veranlagt bin.«
»Und deshalb hast du keine Angst vor Jo Jo.«
Jesse lächelte. »Es wäre klug, vor Jo Jo Angst zu haben. Es wäre auch klug von Jo Jo, vor mir Angst zu haben.«
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25
Pat Sears fand Captain Cat, als er seine Elf-bis-sieben-Schicht beendete und den Streifenwagen abstellte, um seinen Bericht zu schreiben. Drei Stufen führten zur Eingangstür der Revierwache hoch. Der Kater lag auf der untersten Stufe. Er war tot und ein kleines Schild hing um seinen Hals. Auf dem Schild stand mit schwarzem Filzschreiber SCHLAMPE geschrieben. Als Jesse dazukam, hatten die meisten Beamten schon davon gehört und einige waren hergekommen, obwohl sie keinen Dienst hatten. Es wurde nicht viel geredet. Captain Cat war nur ein Kater. Aber er war ihr
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