Das dunkle Paradies
fragte ich.
Mistress Coyle blickte auf den See hinaus. »Weil sie die ganze Stadt gegen uns aufbringen wollen. Weil es so aussehen soll, als wären wir die Bösen.«
»Ja«, bestätigte die Frau. Ich hatte sie gefunden, als wir einen Übungslauf durch die Wälder machten. Sie war von einem felsigen Ufer gestürzt, hatte sich aber glücklicherweise nur die Nase gebrochen. »An jedem zweiten Tag finden Kundgebungen statt«, erzählte sie. »Die Leute hören ihm zu.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Mistress Coyle.
Ich schaute sie forschend an. »Damit habt Ihr nichts zu tun, nicht wahr? Ihr habt sie nicht getötet?«
Ihr Gesicht glühte so sehr, dass man ein Streichholz daran entzünden konnte. »Für wen hältst du uns eigentlich, mein Mädchen?«
Ich wich ihrem Blick nicht aus. »Woher soll ich das so genau wissen? Ihr habt ein Armeequartier in die Luft gejagt. Ihr habt Soldaten getötet.«
Sie schüttelte nur den Kopf, und ich rätselte, ob dies nun als Antwort gelten konnte.
»Bist du sicher, dass dich niemand verfolgt hat?«, fragte sie die Frau.
»Ich bin drei Tage lang durch die Wälder geirrt. Nicht ich habe euch gefunden.« Die Frau zeigte auf mich. »Im Gegenteil: Sie hat mich gefunden.«
»Ja«, sagte Mistress Coyle und schaute mich von der Seite an. »Das kann Viola sehr gut.«
Am Brunnen gibt es ein Problem.
»Er liegt zu nahe am Haus«, flüstere ich.
»Unsinn«, flüstert Mistress Coyle zurück. Sie tritt hinter mich und bindet den Rucksack los.
»Seid Ihr sicher?«, frage ich. »Die Sprengsätze, mit denen Ihr den Turm zerstört habt, die waren …«
»Es gibt solche Bomben und solche.« Sie macht sich an dem Paket zu schaffen, das ich getragen habe, dann dreht sie mich um, damit ich ihr ins Gesicht sehen kann, und fragt: »Bist du bereit?«
Ich blicke zum Haus hinüber, wer weiß, wer gerade darin schläft, vielleicht Frauen, unschuldige Männer, Kinder, ich will niemanden töten, jedenfalls nicht, solange ich es nicht muss. Aber wenn ich es für Todd und Corinne tue, dann sei’s drum. »Seid Ihr sicher?«, frage ich zurück.
»Entweder, du vertraust mir, Viola, oder du vertraust mir nicht.« Sie legt den Kopf zur Seite. »Was nun?«
Der Wind hat wieder etwas aufgefrischt, er trägt Lärmfetzen der Schläfer aus New Prentisstown herüber. Es ist ein undefinierbares, näselndes, schnarchendes, sehr leises Dröhnen , wenn es so etwas überhaupt gibt.
Irgendwo mittendrin ist Todd.
(Nicht tot, egal, was sie sagt.)
»Bringen wir es hinter uns.« Ich nehme das Bündel.
Die Befreiungsaktion konnte Lee seine Sorgen und seine Angst nicht nehmen. Seine Schwester und seine Mutter waren nicht unter den geretteten Gefangenen gewesen, auch nicht unter denen, die ums Leben kamen. Möglicherweise befanden sie sich in dem einzigen Gefängnis, das die Antwort nicht hatte stürmen können. Aber …
»Auch wenn sie tot sind«, sagte er eines Abends zu mir, als wir am Ufer des Sees saßen, Steine ins Wasser warfen und unsere Glieder von den Strapazen eines langen Ausbildungstages schmerzten, »ich möchte einfach Gewissheit haben.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn du es nicht sicher weißt, kannst du immer noch hoffen.«
»Davon werden sie auch nicht lebendig.« Er setzte sich nahe zu mir. »Ich glaube, sie sind tot. Ich spüre es.«
»Lee …«
»Ich werde ihn umbringen.« Seine Worte waren ein Versprechen, keine Drohung. »Wenn ich nahe genug an ihn herankomme, bring ich ihn um. Ich schwör’s dir.«
Die beiden Monde gingen über uns auf, das stille Wasser des Sees machte vier aus ihnen. Ich warf noch einen Stein ins Wasser und sah zu, wie er über die Spiegelbilder der Monde hüpfte. Vom Lager her waren leise Geräusche zu hören. Hie und da hörte ich Lärm, darunter mischte sich das immer lauter werdende Summen von Lees Lärm, er war keiner von den Glücklichen, die eine Arznei-Ration von Mistress Coyle bekamen.
»Es ist nicht so, wie du dir das vorstellst«, sagte ich leise.
»Jemanden zu töten?«
Ich nickte. »Sogar, wenn es jemand ist, der es verdient, oder jemand, der dich umbringt, wenn du ihn nicht umbringst, selbst dann ist es anders, als du es dir vorstellst.«
Wieder schwiegen wir und schließlich sagte er: »Ich weiß.«
Ich schaute ihn an. »Du hast einen Soldaten getötet.«
Er schwieg, das war seine Art zu antworten.
»Lee?«, fragte ich. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Weil es nicht so ist, wie man es sich vorstellt.«
»Selbst wenn es jemand
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