Das dunkle Paradies
Prentiss junior‹ und ›Mr Hewitt‹ an«, ruft der Bürgermeister von vorn.
»Was?«, fragt Davy und sein Lärm schwillt an. »Er ist noch gar kein Mann. Er ist erst …«
Nur mit seinem Blick bringt der Bürgermeister ihn zum Schweigen. »Heute Früh wurde eine Leiche aus dem Fluss gefischt«, sagt er. »Eine Leiche, die von Stichwunden übersät war und in deren Rücken ein langes Messer steckte. Der Mann ist seit etwa zwei Tagen tot.«
Er schaut mich an, durchforscht wieder meinen Lärm. Ich krame aus meinem Gedächtnis die Bilder hervor, die er sehen will, lasse das, was ich mir einbilde, so aussehen, als sei es die Wahrheit, denn das ist ja das Besondere am Lärm: Darin ist alles, was du denkst, es muss nicht immer die reine Wahrheit sein. Wenn man sich nur lebhaft genug vorstellt, dass man etwas getan hat, na ja, dann könnte man es ja tatsächlich getan haben.
Davy spottet: »Du hast Aaron getötet? Nie im Leben.«
Der Bürgermeister sagt nichts dazu, sondern treibt sein Pferd zu einer schnelleren Gangart an. Davy grinst höhnisch, dann gibt er seinem Pferd die Sporen und folgt seinem Vater.
»Folgen«, wiehert Morpeth.
»Folgen«, wiehert Davys Pferd.
Folgen , denkt mein Pferd. Es galoppiert hinterher und dabei wird jeder Knochen in meinem Körper durchgeschüttelt.
Während wir reiten, halte ich ständig nach ihr Ausschau, obwohl es völlig aussichtslos ist. Selbst wenn sie noch am Leben ist, wird sie kaum gehen können, und selbst wenn sie kräftig genug zum Gehen ist, wird sie eingesperrt sein wie die anderen Frauen auch.
Aber ich schaue mich um …
(Vielleicht konnte sie ja fliehen.)
(Vielleicht sucht sie mich.)
(Vielleicht ist sie …)
Und dann höre ich es.
ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH.
Glasklar höre ich die Stimme des Bürgermeisters in meinem Kopf, sie windet sich um meine eigene Stimme, spricht in meinen Lärm hinein, so unvermittelt, dass ich mich kerzengerade aufrichte und beinahe vom Pferd falle. Davy schaut mich überrascht an, in seinem Lärm höre ich, dass er sich über mein seltsames Verhalten wundert.
Aber der Bürgermeister reitet weiter, als wäre rein gar nichts passiert.
Je weiter wir von der Kathedrale aus nach Westen reiten, desto ungepflegter wirkt die Stadt. Auch die Gebäude werden einfacher, es sind jetzt lange Holzhäuser, die in einiger Entfernung voneinander stehen, verstreut wie Ziegelsteine, die man auf eine Waldlichtung geworfen hat.
Häuser, aus denen die Stille von Frauen nach draußen dringt.
»Ganz recht«, sagt der Bürgermeister. »Wir kommen in das neue Frauenviertel.«
Im Vorbeireiten krampft sich mein Herz zusammen, die Stille wächst und greift wie eine Hand nach mir.
Ich versuche mich im Sattel aufzurichten.
Denn hier ist der Ort, an dem sie sich wahrscheinlich aufhält, hier ist der Ort, an dem sie wieder gesund werden wird.
Davy schließt zu mir auf, sein mickriges, kaum vorhandenes Bärtchen verzieht sich nun zu einem widerlichen Grinsen. Ich kann dir verraten, wo deine Schlampe ist , sagt sein Lärm.
Bürgermeister Prentiss dreht sich abrupt im Sattel um.
Und dann ist da dieses unheimliche Geräusch, es ist wie ein Schrei, aber leise und entfernt, wie eine Million Wörter, die alle auf einmal gesprochen werden, so schnell, dass ich schwören könnte, mein Haar wird zurückgeweht wie im Sturm.
Aber das ist gar nichts im Vergleich zu Davys Reaktion.
Sein Kopf wird nach hinten gerissen, als hätte er einen Schlag bekommen, er muss sich an den Zügeln festhalten, um nicht aus dem Sattel zu kippen, das Pferd dreht sich um sich selbst, Davys Augen sind weit aufgerissen, er scheint wie geblendet, sein Mund steht offen, Spucke läuft ihm übers Kinn.
Was zum Teufel …?
»Er weiß nichts, Todd«, sagt der Bürgermeister. »Alles, was sein Lärm dir über sie sagt, ist gelogen.«
Ich blicke zu Davy, der noch immer benommen ist und vor Schmerz die Augen zusammenkneift, dann wieder zum Bürgermeister. »Soll das heißen, sie ist in Sicherheit?«
»Das heißt, dass er keine Ahnung hat. Stimmt’s, Davy?«
Ja, Pa , antwortet Davys Lärm zittrig.
Bürgermeister Prentiss zieht die Augenbrauen hoch.
Ich sehe, wie Davy die Zähne zusammenbeißt. »Ja, Pa«, antwortet er dann laut und deutlich.
»Ich weiß, dass mein Sohn ein Lügner ist«, sagt der Bürgermeister. »Ich weiß, er ist ein Raufbold, ein brutaler Kerl, und ihm liegt nichts an dem, was mir lieb und teuer ist. Aber er ist dennoch mein Sohn.« Er schaut wieder
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