Das dunkle Paradies

schaut weiter gebannt durchs Fernglas, er ist wie hypnotisiert. »Das Geräusch und der Qualm«, sagt er, »viel zu auffällig.«
    »Bürgermeister Prentiss!« Mein Lärm wird schrill vor Aufregung.
    »In der Stadt haben sie ganz andere Bomben eingesetzt, also warum …«
    »Lauft!«, schreie ich.
    Morpeth macht einen Satz und der Bürgermeister wendet sich mir endlich zu. Aber ihn habe ich nicht gemeint.
    »Lauft!«, schreie ich und fuchtle mit der Schaufel herum, damit die Spackle begreifen.
    Die Spackle, die auf genau dem Feld sind, auf das die Bombe zurast.
    Ttsssss …
    Sie verstehen nichts, die meisten von ihnen sehen nur zu, wie die Bombe auf sie zufliegt. »Lauft!«, schreie ich, und in meinem Lärm lasse ich sie den Knall von Explosionen hören, zeige ihnen, was passieren wird, wenn diese Bombe einschlägt, ich lasse sie Blut und aufgerissene Gedärme sehen. »Lauft, verdammt noch mal!«
    Schließlich kapieren sie es, ein paar laufen weg, vielleicht auch nur, weil sie vor meinem Geschrei und meinem Schaufelschwingen weglaufen wollen, aber immerhin rennen sie, und ich jage sie immer weiter übers Feld. Ich schaue zurück. Der Bürgermeister ist bis zum Klostertor geritten, bereit, falls nötig, noch weiter wegzureiten.
    Aber er lässt mich nicht aus den Augen.
    »Lauft!«, schreie ich immerzu und treibe die Spackle an. Die letzten springen jetzt über das nächstgelegene Mäuerchen, und ich springe mit ihnen, schnappe nach Luft, schaue zurück zu der Stelle, wo die Bombe gleich einschlagen wird.
    Und da sehe ich 1017. Er steht in der Mitte des Feldes und starrt in den Himmel. Auf die Bombe, die genau dort, wo er steht, herunterkommen wird.
    Ehe ich es selbst weiß, bin ich schon wieder zurückgesprungen über die kleine Mauer.
    Meine Füße trommeln über das Gras.
    Ich springe über die Gräben, die wir ausgehoben haben.
    Ich laufe so schnell, dass in meinem Lärm gar nichts mehr zu hören ist.
    Nur noch das Heulen der Bombe.
    Das lauter und immer lauter wird.
    1017 hält die Hände vor die Augen, weil ihn gerade die Sonne blendet.
    Warum läuft er nicht weg?
    Und meine Füße trommeln, trommeln …
    Und ich plärre: »Du verdammter Idiot, du verdammter Idiot!«
    Ttsssssssssssssssssssssssss …
    1017 sieht mich nicht kommen.
    Ich stürze mich auf ihn, mit einer solchen Wucht, dass ihm die Beine wegknicken, er ringt nach Atem, während wir durch die Luft fliegen, auf dem Boden aufschlagen und weiterrollen, Hals über Kopf in einen flachen Graben kullern. Und dann verschlingt ein gigantisches, kurzes
Wumm! den ganzen Planeten,
    fetzt jeden Gedanken und jeden Lärm hinweg,
    reißt das Gehirn heraus, zerschmettert es,
    saugt alle Luft auf und bläst sie weg,
    lässt Dreck und Gras wie einen Hagelschauer auf uns niederprasseln
    und macht unsere Lungen voll Qualm.
    Und dann herrscht Stille.
    Dröhnende Stille.
    »Bist du verletzt?«, höre ich den Bürgermeister rufen, er klingt, als wäre er meilenweit entfernt und tief unter Wasser.
    Ich setze mich auf und sehe mitten auf dem Feld den riesigen, qualmenden Bombenkrater, der Rauch verzieht sich schon, hier gibt es nichts, was brennen könnte. Die Spackle stehen dicht an dicht zusammengedrängt und beobachten alles aus der Ferne.
    Ich atme, aber ich höre nichts.
    1017, der unter mir im Graben liegt, zappelt und will aufstehen. Ich mache den Mund auf, will ihn fragen, ob alles in Ordnung ist, obwohl er mir ja keine Antwort geben kann.
    Da schlägt er so fest nach mir, dass sich Striemen über mein Gesicht ziehen.
    »Hey!«, schreie ich ihn an, obwohl ich kaum höre, was ich rufe.
    Er windet sich unter mir hervor, und ich strecke die Hand nach ihm aus, um ihn festzuhalten.
    Da beißt er mit seinen kleinen, scharfen Zähnen zu.
    Und ich ziehe die Hand weg, sie blutet schon.
    Und ich will ihn niederschlagen, will ihn regelrecht in den Boden rammen.
    Aber da hat er sich losgerissen, rennt fort, mitten durch den Krater, rennt zurück zu den anderen Spackle …
    »Hey!«, schreie ich ihm hinterher und mein Lärm färbt sich rot.
    Aber er läuft und läuft, blickt sich nach mir um, und die anderen Spackle schauen mich ebenfalls an; in ihren blöden, ausdruckslosen Gesichtern ist noch weniger zu lesen als im Gesicht des dümmsten Schafes, das ich auf unserer Farm hatte. Und meine Hand blutet, und in meinen Ohren rauscht es, und mein Gesicht brennt von den vielen Kratzern, ich habe sein dämliches Leben gerettet, und das ist nun der Dank dafür.
    Tiere, denke ich.