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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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unablässig flehte sie mich an, ihr Leben zu retten.«
    Ich schweige.
    »Die Heilerinnen haben herausgefunden, dass ich sie tatsächlich hätte retten können, ich hätte einfach nur einen Sud aus Xanthuswurzeln zubereiten müssen.« Sie verschränkt die Arme. »Die wachsen dort überall. Haufenweise.«
    Das Dröhnen von New Prentisstown erwacht gerade mit dem neuen Tag. Am Horizont zeigen sich die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, aber wir schweigen noch eine Zeit lang.
    »Das tut mir leid, Corinne«, sage ich schließlich. »Aber weshalb …«
    »Jede von uns hier ist die Tochter einer Mutter«, entgegnet sie ruhig. »Und jeder Soldat da draußen ist irgendjemandes Sohn. Das größte Verbrechen, das allergrößte Verbrechen ist es, Leben zu nehmen. Es gibt nichts Schlimmeres.«
    »Und deshalb kämpfst du nicht«, sage ich.
    Sie dreht sich abrupt zu mir um. »Leben heißt kämpfen«, fährt sie mich an. »Wenn man Leben bewahren will, muss man gegen dasjenige kämpfen, was den Menschen ausmacht.« Sie schnaubt wütend. »Und jetzt auch noch gegen sie, mit all ihren Bomben. Jedes Mal, wenn ich das blutunterlaufene Auge einer Frau behandle, jedes Mal, wenn ich einer Verletzten einen Splitter entferne, kämpfe ich gegen diese Bomben.« Sie hat laut gesprochen, aber jetzt beruhigt sie sich wieder. »Das ist mein Krieg«, sagt sie. »Das ist der Kampf, den ich führe.«
    Sie geht zu ihrem Stuhl zurück und hebt ein Bündel Kleider auf. »Und deshalb möchte ich, dass du das hier anziehst.«
    Sie lässt mir keine Zeit zu diskutieren, geschweige denn sie zu fragen, was sie vorhat. Sie nimmt meine Gehilfinnen-Uniform und meine eigenen, ausgewaschenen Kleider, und ich muss alte, abgetragene Fetzen anziehen, eine Bluse mit langen Ärmeln, einen langen Rock und ein Kopftuch, unter dem keine einzige Haarsträhne hervorlugt.
    »Corinne«, sage ich, während ich mir das Kopftuch umbinde.
    »Halt den Mund und beeil dich.«
    Als ich mich umgezogen habe, führt sie mich bis zum Ende des langen Korridors, von dem aus man aus dem Haus der Heilung bis zum Flussufer gelangt. An der Tür steht ein schwerer Sack mit Medikamenten und Verbandsmaterial. Sie gibt ihn mir und sagt: »Warte auf das Geräusch. Wenn du es hörst, wirst du wissen, welches ich meine.«
    »Corinne …«
    »Deine Chancen stehen nicht besonders gut, darüber solltest du dir im Klaren sein.« Sie sieht mich endlich an. »Aber wenn du das Versteck erreicht hast, dann nutze diese Mittel wie eine Heilerin, hast du das verstanden? Du kannst es, ob du es nun glaubst oder nicht.«
    Mein Atem geht schwer, ich bin aufgeregt, aber ich sage: »Ja, Mistress.«
    »Mistress ist in Ordnung«, erwidert sie und späht aus dem Türfenster. Wir sehen nur einen einzigen, gelangweilten Soldaten, der an der Hausecke lehnt und in der Nase bohrt. »Und jetzt«, sagt Corinne, »schlag mich, bitte.«
    Ich blinzle ungläubig. »Was soll ich?«
    »Schlag mich«, wiederholt sie. »Ich brauche eine blutige Nase oder wenigstens eine aufgesprungene Lippe.«
    »Corinne …«
    »Schnell, ehe es auf den Straßen von Soldaten wimmelt.«
    »Ich denke gar nicht daran, dich zu schlagen.«
    Sie packt mich am Arm, so grob, dass ich sofort zurückzucke. »Glaubst du denn im Ernst, dass du ein zweites Mal zurückkommen wirst, wenn der Präsident nach dir schickt? Er hat versucht dich auszuhorchen, dann hat er deinem Freund eine Falle gestellt. Glaubst du wirklich, dass die Geduld eines solchen Menschen endlos ist?«
    »Corinne …«
    »Erst wird er dir Schmerzen zufügen«, fährt sie fort. »Und wenn du dich dann immer noch weigerst, ihm zu helfen, wird er dich umbringen.«
    »Aber ich weiß doch gar nicht …«
    »Es ist ihm egal, was du weißt!«, stößt sie zwischen den Zähnen hervor. »Wenn ich verhindern kann, dass jemand getötet wird, werde ich es verhindern, selbst wenn es dabei um einen Menschen geht, der so starrköpfig ist wie du.«
    »Du tust mir weh«, sage ich ganz ruhig, als sich ihre Finger in meinen Arm krallen.
    »Gut so«, sagt sie. »Du sollst wütend werden, damit du mich schlägst.«
    »Aber weshalb …«
    »Tu’s einfach!«, schreit sie mich an.
    Ich atme tief durch, dann noch einmal, dann schlage ich ihr ins Gesicht, so fest ich kann.
    Ich stehe geduckt hinter dem Türfenster und lasse den Soldaten nicht aus den Augen. Ich höre Corinne in Richtung Empfangshalle laufen, ihre Schritte werden leiser, aber ich warte noch ein bisschen. Der Soldat ist einer von den vielen, denen

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