Das dunkle Paradies
man die Arznei weggenommen hat, und in der Stille des Morgens höre ich, was er denkt. Er denkt daran, wie ihn alles anödet, er denkt an das Dorf, in dem er gelebt hat, und wie es dort war, ehe die Armee einmarschiert ist, er denkt an die Armee, in die man ihn gezwungen hat. Er denkt an ein Mädchen, das er kannte und das jetzt tot ist.
Und dann höre ich von der Vorderseite des Hauses Corinnes gedämpfte Schreie. Wahrscheinlich ruft sie, dass sich die Antwort während der Nacht ins Haus eingeschlichen, sie bewusstlos geschlagen und mich vor ihren Augen entführt habe und dass sie gesehen habe, wie wir alle weggelaufen sind, und zwar genau in die Richtung, in die ich nicht laufen werde.
Es ist eine völlig unglaubwürdige Geschichte, sie kann gar nicht funktionieren, denn wie sollte sich jemand ins Haus schleichen, wo doch überall Wachen postiert sind?
Aber ich weiß, worauf sie zählt. Sie zählt auf ein Gerücht, ein Gerücht über die Antwort .
Wie kann jemand Bomben legen, ohne gesehen zu werden?
Ohne dass er auf frischer Tat ertappt wird?
Wenn die Antwort das kann, warum sollte sie sich nicht auch an bewaffneten Wachposten vorbeischleichen können?
Ist sie etwa unsichtbar?
Genau solche Gedanken höre ich, als der Soldat, von dem Krawall alarmiert, aus seinen Gedanken hochschreckt. Die Gedanken werden lauter in seinem Lärm, dann rennt er um die Ecke und ist verschwunden.
Jetzt muss ich mich beeilen.
Ich wuchte den Medikamentensack über die Schulter.
Ich mache die Tür auf.
Und renne los.
Ich renne auf eine kleine Allee zu und dann hinunter zum Fluss. Am Ufer führt ein Weg entlang, aber ich bleibe im Schutz der Bäume, und als der Sack mit seinem scharfkantigen Inhalt gegen meine Schultern und meinen Rücken schlägt, muss ich unwillkürlich daran denken, wie Todd und ich denselben Fluss entlanggelaufen sind, auf demselben Uferstreifen, auf der Flucht vor der Armee, wie wir rannten und rannten.
Ich muss zum Ozean.
Sosehr ich Todd auch finden will, meine einzige Chance besteht darin, zuerst sie zu finden.
Und dann werde ich zu ihm zurückkommen.
Bestimmt.
(Ich werde dich nie verlassen, Todd Hewitt.)
Mir tut das Herz weh, als ich mich an diesen Satz erinnere.
Und wie ich jetzt mein Versprechen breche.
(Halt durch, Todd!)
(Bleib am Leben!)
Ich renne.
Ich renne weiter flussabwärts, gehe Patrouillen aus dem Weg, nehme Abkürzungen durch Gärten, renne an Zäunen entlang, halte mich, so gut es geht, von Häusern fern.
Das Tal wird enger. Die Hügel rücken bis an die Straße heran, die Häuser werden weniger. Ich höre Marschtritte und ducke mich tief ins Unterholz, während die Soldaten vorbeigehen. Ich halte den Atem an, bleibe so dicht am Boden, wie ich nur kann, dann warte ich, bis ich nur noch einen Vogel singen höre – Wo bin ich sicher? – und das inzwischen weit entfernte Dröhnen der Stadt, dann warte ich noch einen oder zwei Atemzüge lang, ehe ich mich auf der Straße umschaue.
In der Ferne macht der Fluss einen Bogen und hinter der hügeligen, bewaldeten Landschaft verschwindet die Straße.
Hier, weit weg von der Stadt, liegen fast nur Felder und Bauernhöfe, sie ziehen sich die sanften Hügel hoch, dahinter ist wieder Wald. Auf der anderen Seite der Straße verläuft ein schmaler Weg, der zu einem Farmhaus führt, in dessen Vorgarten einige Bäume stehen. Rechts vom Haus erstrecken sich die Felder, aber neben und hinter dem Anwesen beginnt schon wieder dichter Wald. Wenn ich es diesen Pfad hinaufschaffe, bin ich vorerst in Sicherheit. Dort kann ich mich verstecken, bis die Nacht hereinbricht, und dann mache ich mich in der Dunkelheit auf den Weg. Ich suche die Straße nach allen Richtungen ab. Ich lausche, ob ich Marschtritte, Lärm oder das Rattern eines Fuhrwerks höre.
Ich hole tief Luft – und renne pfeilschnell die Straße entlang.
Ich lasse das Farmhaus dabei nicht aus den Augen, der Sack klatscht gegen meinen Rücken, ich rudere mit den Armen, mein Atem geht keuchend, weil ich schneller und schneller und immer schneller renne.
Den Weg entlang …
Fast habe ich die Bäume erreicht …
… als ein Farmer aus dem Wald heraustritt.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen, rutsche im Dreck aus und falle fast hin. Er springt zurück, ganz offensichtlich überrascht, weil ich so urplötzlich vor ihm auftauche.
Wir starren uns an.
Sein Lärm ist still, überaus höflich, er beherrscht ihn, deshalb habe ich ihn auch aus der Ferne nicht kommen hören. Unter dem Arm
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