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Das Echo aller Furcht

Das Echo aller Furcht

Titel: Das Echo aller Furcht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Clancy
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geziemte. Er war nur einszweiundsiebzig groß, wog aber neunzig Kilo. Sein Körper war ein einziges Muskelpaket mit schenkeldicken Oberarmen, der Taille einer Ballerina und den Schultern eines Football-Nationalliga-Spielers. Außerdem war er leicht psychopathisch veranlagt, was er aber nicht wußte.
    Das Leben hatte weder ihm noch seinem Bruder besondere Chancen gegeben. Sein Vater war ein Trinker gewesen, der nur gelegentlich und dafür um so schlampiger als Automechaniker arbeitete, um umgehend das verdiente Geld in die nächstbeste Spirituosenhandlung zu tragen. Marvins Kindheitserinnerungen waren bitter: Er schämte sich für seinen ständig betrunkenen Vater, und was seine Mutter trieb, wenn ihr Mann vollkommen besoffen im Wohnzimmer lag, war noch schändlicher. Die Sozialhilfe stellte die Lebensmittel, nachdem die Familie aus Minnesota in das Reservat zurückgekehrt war. Die Ausbildung kam von Lehrern, die jede Hoffnung, etwas zu bewirken, längst aufgegeben hatten. Aufgewachsen war er in einer verstreut liegenden Ansammlung von einfachen Unterkünften, die die Regierung gestellt hatte; sie standen wie Gespenster im wehenden Präriestaub. Keiner der beiden Russell-Jungs hatte je einen Baseballhandschuh besessen. Daß Weihnachten war, merkten sie nur an den Schulferien. Beide waren vernachlässigt aufgewachsen und hatten früh gelernt, sich allein durchzuschlagen.
    Das war zunächst gar nicht schlecht gewesen, denn Selbständigkeit gehörte zu den Traditionen ihres Volkes, aber alle Kinder brauchen Anleitung, und an diesem Punkt versagten die Eltern Russell. Ehe die Jungen lesen konnten, mußten sie jagen und schießen lernen; oft kam zum Abendessen auf den Tisch, was sie mit ihren Kleinkalibern erbeutet hatten. Fast ebensooft mußten die Kinder die Mahlzeit selbst zubereiten. Obwohl sie nicht die einzigen armen und vernachlässigten Jugendlichen im Reservat waren, gehörten sie doch zweifellos zur untersten Schicht, und im Gegensatz zu manchen Nachbarskindern gelang ihnen der Sprung in ein besseres Leben nicht. Schon lange bevor sie den Führerschein hätten haben dürfen, saßen sie am Steuer von Vaters klapprigem altem Pick-up und fuhren in klaren, kalten Nächten zig Kilometer weit in andere Städte, um sich auf eigene Faust zu besorgen, was die Eltern ihnen nicht geben konnten. Als sie zum ersten Mal erwischt wurden – von einem Sioux mit Schrotflinte –, ertrugen sie die Tracht Prügel mannhaft und zogen, versehen mit blauen Flecken und einer ernsthaften Ermahnung, wieder heim. Aus dieser Erfahrung lernten sie, von nun an nur noch Weiße zu bestehlen.
    Im Lauf der Zeit wurden sie natürlich auch dabei geschnappt, und zwar auf frischer Tat von einem Stammespolizisten in einem Laden auf dem Land. Zu ihrem Pech kam jede auf Bundesland begangene Straftat vor ein Bundesgericht, und ausgerechnet diesem saß ein Richter vor, der neu war und über mehr Mitgefühl als Scharfsinn verfügte. Zu diesem Zeitpunkt hätte eine strenge Lektion die Jungs von der schiefen Bahn abbringen können, aber der Mann stellte das Verfahren ein und schickte sie zur Beratungsstelle des Jugendamts. Monatelang schärfte ihnen dort eine sehr ernste junge Sozialpädagogin, die an der Uni Wisconsin studiert hatte, ein, Eigentumsdelikte verhinderten die Entwicklung eines positiven Selbstwertgefühls. Eine sinnvolle Beschäftigung wäre den Buben sicher besser bekommen. Nach den Therapiesitzungen fragten sie sich lediglich, wie die Sioux sich von diesen weißen Schwätzern hatten besiegen lassen können, und sie planten von nun an ihre Verbrechen sorgfältiger.
    Doch nicht sorgfältig genug, denn eine so gründliche Ausbildung, wie sie ein richtiges Gefängnis vermittelt, hätte ihnen die Sozialpädagogin nie bieten können. So wurden sie ein Jahr später wieder geschnappt, diesmal außerhalb des Reservats, und diesmal bekamen sie anderthalb Jahre, weil sie in ein Waffengeschäft eingebrochen waren.
    Das Gefängnis war die furchteinflößendste Erfahrung ihres Lebens. Die jungen Indianer, an den freien Himmel und das weite Land des Westens gewöhnt, wurden für ein Jahr zusammen mit hartgesottenen Kriminellen in einen Käfig gesperrt, der ihnen weniger Platz bot, als die Bundesregierung Mardern im Zoo zumißt. In ihrer ersten Nacht hörten sie im Zellblock Schreie und begriffen, daß Vergewaltigungsopfer nicht immer Frauen sein müssen. Dann hatten sie sich schutzsuchend in die Arme ihrer indianischen Mitgefangenen vom American Indian

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