Das Echo aller Furcht
Movement geflüchtet.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie an ihre Ahnen kaum einen Gedanken verschwendet. Unbewußt mochten sie gespürt haben, daß Menschen, wie sie es waren, Sekundärtugenden, wie sie im Fernsehen propagiert wurden, fehlten, und wahrscheinlich schämten sie sich ein wenig, weil sie so anders waren. Natürlich lernten sie, spöttisch über Western zu lachen, in denen die Indianer von Weißen oder Mexikanern dargestellt wurden und Dialoge von Hollywood-Drehbuchautoren plapperten, die vom Wilden Westen soviel verstanden wie von der Antarktis. Aber selbst hier setzte sich bei ihnen ein negatives Bild von sich selbst und ihrem Volk fest. Alle diese Bedenken und Eindrücke wurden durch den Kontakt mit dem American Indian Movement beiseite gefegt. Auf einmal war der weiße Mann an allem schuld. Die Brüder Russell eigneten sich einen Mischmasch aus linksalternativer Anthropologie, einem Schuß Rousseau, einer kräftigen Prise John Ford (dessen Filme immerhin amerikanisches Kulturgut waren) und einer Menge fehlinterpretierter Geschichte an und gelangten zu der Überzeugung, daß ihre Vorfahren ein edles Volk von Jägern und Kriegern gewesen waren, das in Harmonie mit der Natur und den Göttern gelebt hatte. Irgendwie übergangen wurde die Tatsache, daß die Indianerstämme etwa so »friedlich« koexistiert hatten wie die Europäer – »Sioux« bedeutete »Schlange«, ein nicht gerade freundlicher Namen – und sich erst in der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts über die Präriegebiete des Westens zu verbreiten begonnen hatten. Von den grausamen Kriegen zwischen den Stämmen sprach auch niemand. Früher war einfach alles viel besser gewesen. Die Indianer waren die Herren ihres Landes, folgten den Büffelherden, jagten, führten ein gesundes und erfülltes Leben unter den Sternen und maßen nur gelegentlich in kurzem, heldenhaftem Kampf ihre Kräfte – so wie die Ritter beim Turnier es getan hatten. Selbst der Brauch der Gefangenenfolterung wurde verherrlicht, indem man sie als Gelegenheit für die Krieger darstellte, ihren sadistischen Mördern mit stoischem Mut zu begegnen, was den Quälern immerhin Respekt einflößte.
Bedauerlich und nicht Marvin Russells Schuld war nur, daß er seine edlen Gedanken zuerst von Kriminellen bezog. Zusammen mit seinem Bruder hörte er von den Göttern des Himmels und der Erde, einem von den Weißen und ihrer falschen Sklavenreligion grausam unterdrückten Glauben. Sie erfuhren von der Bruderschaft in der Prärie, davon, daß die Weißen den Indianern ihr rechtmäßiges Eigentum gestohlen hatten. Das Bleichgesicht hatte die Büffel abgeschossen und den Indianern damit die Lebensgrundlage genommen, es hatte einen Keil zwischen die Stämme getrieben, sie aufeinandergehetzt, massakriert und schließlich eingesperrt, bis ihnen kaum mehr als Feuerwasser und Verzweiflung blieben. Wie alle erfolgreichen Lügen enthielt auch diese einen kräftigen Funken Wahrheit.
Marvin Russell begrüßte den ersten orangefarbenen Sonnenstrahl mit einem Gesang, der authentisch gewesen sein mochte oder nicht – genau konnte das kein Mensch mehr sagen, und er schon gar nicht. Die Zeit im Gefängnis war aber keine ausschließlich negative Erfahrung für ihn gewesen. Angetreten hatte er seine Strafe auf dem Niveau eines Drittkläßlers, entlassen wurde er mit dem Realschulabschluß. Marvin Russell war nicht dumm, und niemand konnte ihm zum Vorwurf machen, daß er in ein Schulsystem hineingeboren wurde, das ihn von vornherein zum Scheitern verurteilte. Er las eifrig alle Bücher über die Geschichte seines Volkes – nun, nicht unbedingt alle; er achtete sorgfältig auf die Tendenz. Alles, was sein Volk auch nur im geringsten negativ darstellte, reflektierte natürlich weiße Vorurteile. Vor der Ankunft der Weißen hatten die Sioux weder Alkohol getrunken noch in armseligen kleinen Dörfern gelebt und schon gar nicht ihre Kinder mißhandelt. Nein, das waren alles Folgen der Intervention des weißen Mannes.
Aber was tun? fragte er die Sonne. Die glühende Gaskugel färbte sich rot in der staubigen Luft dieses heißen, trockenen Sommers, und vor Marvin tauchte das Gesicht seines Bruders auf, die Zeitlupenaufnahmen aus dem Fernsehen. Anders als die große Anstalt hatte der Regionalsender das Videoband in Standbilder aufgelöst und diese separat gezeigt: Der Augenblick, in dem die Kugel Johns Kopf traf, war in zwei Einzelbildern festgehalten, auf denen sich das Gesicht seines Bruders vom Kopf
Weitere Kostenlose Bücher