Das Echo aller Furcht
der Bevölkerung den jüdischen Glauben praktiziert. Benjamin Zadin hatte trotz der Ermahnungen seiner Mutter nie zu dieser Gruppe gehört, sondern den lockeren Lebensstil eines modernen Hedonisten geführt und seit seiner Bar-Mizwa, also seit er dreizehn war, keine Synagoge mehr von innen gesehen. Gezwungenermaßen sprach und schrieb er Hebräisch, immerhin die Landessprache, aber die Überlieferungen und Vorschriften seiner Kultur waren ihm ein merkwürdiger Anachronismus, etwas Rückständiges, das so gar nicht in das ansonsten modernste Land des Nahen Ostens passen wollte.
Seine Frau hatte ihn in dieser Auffassung noch bestärkt. Der religiöse Eifer Israels, hatte er oft gescherzt, lasse sich an der Knappheit der Bikinis an den vielen Stränden messen. Seine Frau Elin, eine große, schlanke Blondine, war aus Norwegen gekommen, sah, wie sie oft privat witzelten, so jüdisch aus wie Eva Braun und stellte noch immer gerne ihre Figur zur Schau, manchmal sogar ohne Oberteil. Ihr Eheleben war leidenschaftlich und stürmisch gewesen. Natürlich hatte er immer gewußt, daß sie gerne einen Blick auf andere Männer warf, und auch er war gelegentlich fremdgegangen, aber er war völlig überrascht gewesen, als sie ihn verließ und zu einem anderen zog. Ihre plötzliche Entscheidung machte ihn so benommen, daß er weder weinen noch flehen konnte und einfach allein in einem Haus mit mehreren geladenen Waffen blieb, mit denen er seinem Leiden rasch ein Ende hätte setzen können. Nur seine Söhne hatten ihn von diesem Schritt abgehalten; sie konnte er nicht so einfach im Stich lassen, wie es mit ihm passiert war. Der Schmerz aber bohrte weiter.
In einem kleinen Land wie Israel bleibt nichts geheim. Es wurde sofort bekannt, daß Elin zu einem anderen Mann gezogen war, und das Gerücht drang bis zu Benjamins Wache durch, wo die Männer die Verzweiflung ihres Hauptmanns aus seinen Augen ablesen konnten. Manche fragten sich, wie und wann er sich wieder fangen würde, aber nach einer Woche spekulierte man eher, ob er das Tief überhaupt überwinden konnte. An diesem Punkt griff einer von Zadins Wachtmeistern ein und erschien eines Abends vor der Tür des Hauptmanns, begleitet von Rabbi Israel Kohn. An diesem Abend fand Benjamin Zadin zu Gott. Mehr noch, sagte er sich mit einem Blick auf die Altstadtterrassen von Jerusalem, ich habe wieder gelernt, was es bedeutet, Jude zu sein. Was ihm zugestoßen war, konnte nichts anderes als Gottes Strafe sein – für die Sexparties mit seiner Frau und anderen, für die Mißachtung der mütterlichen Ermahnungen, für den Ehebruch, kurz: für zwanzig Jahre sündhafter Gedanken und Taten und der ständigen Vorspiegelung, ein aufrechter und tapferer Kommandant von Polizisten und Soldaten zu sein. Doch von nun an sollte das alles anders werden. Heute wollte er weltliche Gesetze brechen, um seine Sünden gegen das Wort Gottes zu sühnen.
Es war am frühen Morgen eines Tages, der glühend heiß zu werden versprach; der Ostwind wehte von Saudi-Arabien her. Hinter Zadin standen vierzig Mann, ausgerüstet mit Schnellfeuergewehren, Tränengas und anderen Waffen, die »Gummigeschosse« feuern konnten, die eigentlich aus verformbarem Kunststoff bestanden, einen erwachsenen Menschen umwerfen und ein Herz durch massive Prellung zum Stillstand bringen konnten. Zadin brauchte seine Männer, um einen Gesetzesbruch zu provozieren – ganz im Gegensatz zu den Zielen seiner Vorgesetzten – und um zu verhindern, daß andere sich einmischten und ihn beim Vollzug des göttlichen Gesetzes störten. So hatte Rabbi Kohn argumentiert. Wer gab die Gesetze? Eine metaphysische, für einen Polizeioffizier viel zu komplizierte Frage. Viel simpler, hatte der Rabbi erklärt, war die Tatsache, daß die Stelle, an der der Tempel Salomons gestanden hatte, die spirituelle Heimat des Judentums und aller Juden war. Gott hatte den Platz gewählt, und menschliche Einsprüche zählten wenig. Es war an der Zeit, daß die Juden wieder in Besitz nahmen, was Gott ihnen gegeben hatte. Heute wollten zehn konservative chassidische Rabbis den Anspruch auf die Stätte geltend machen, an der der neue Tempel exakt nach den Vorgaben der Heiligen Schrift wiederaufgebaut werden sollte. Hauptmann Zadin plante, seinen Befehl, sie am Kettentor aufzuhalten, zu mißachten und die Marschierer von seinen Männern, die auf sein Wort hörten, vor arabischen Demonstranten schützen zu lassen.
Zu seiner Überraschung waren die Araber schon sehr früh
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