Das Echo der Flüsterer
Kristalltafelwaldes auf. Der Zug aus Hirsch und Schelpins bewegte sich wie eine Raupe mit schneeweißem Kopf mitten in das Gewirr der durchscheinenden Platten hinein. Einige der dünnen Kristalltafeln waren über hundert Fuß hoch und selbst die kleineren überragten Jonas noch um mindestens sechzig Fuß. Mit einem unguten Gefühl in der Magengrube wandte er sich ein letztes Mal um. Vor das Grün der Berghänge schob sich eine hell glitzernde Wand.
Während er noch über dieses seltsame Phänomen nachdachte, drang die Karawane immer tiefer in den Irrgarten ein. Das Gebirge in ihrem Rücken verschwand allmählich wie im Nebel.
Innerhalb des Kristallwaldes war das Licht ungewöhnlich hell. Alles wirkte seltsam flach. Jonas begann zu schwitzen. Er zog sich die Jacke aus. Sein rotes T-Shirt klebte ihm am Rücken fest.
Ringsherum gab es nur noch spiegelnde Flächen. Jonas hatte den Eindruck, der Pfad, dem Darina folgte, würde langsam schmaler werden. Er blickte nach oben. Wenigstens der Himmel war noch da. Merkwürdig, dass Kraark von oben nichts hatte erkennen können.
Jonas hatte nie unter Platzangst gelitten, aber die Vorstellung in diesen engen Gängen für immer gefangen zu sein legte sich wie ein schweres Gewicht auf seine Brust. Die eine oder andere Kristallwand emporzusteigen, um vielleicht dann auf gerader Linie das Tal zu überwinden, war unmöglich. Dazu waren die Platten viel zu glatt und zu hoch. Was sollten sie also tun, wenn sie keinen Ausweg fanden? Womöglich würden sie tagelang im Kreis herumirren, ohne es überhaupt zu bemerken.
Er drehte sich um. Hinter ihm ritt Sam Chalk. Jonas presste ein schiefes Lächeln hervor, ein missglückter Versuch sich und den Piloten aufzumuntern. Vor ihm befand sich Mangaar. Der schlanke Fährtensucher saß gerade und dennoch entspannt in seinem Sattel. Das flößte Jonas wenigstens etwas Zuversicht ein. In diesem Moment ritt Mangaar langsam zwischen zwei eng beieinander stehenden Kristalltafeln hindurch. Als Jonas die Stelle erreichte, sah er sein Spiegelbild in dem durchsichtigen Mineral. Im nächsten Moment spürte er ein unangenehmes Kratzen am Unterarm.
Erschrocken zog er die Hand eng an den Körper und betrachtete ungläubig die nackte Haut zwischen Handgelenk und Ellenbogen. Die Kristallkante hatte ihm auf zwei Zoll Breite sämtliche Haare vom Arm rasiert.
Von nun an widmete Jonas seiner Umgebung noch größere Aufmerksamkeit. Das war auch nötig, denn die Wände rückten ständig näher heran und die Biegungen, die von den Reit- und Packtieren genommen werden mussten, wurden schärfer.
Darina blieb häufig stehen. Es war dann immer dasselbe Bild: Sie schloss die Augen, suchte mit ernstem Gesicht in ihren Erinnerungen und ließ ihren weißen Hirsch wenig später weitergehen. Dabei wirkte das Mädchen in keiner Weise unsicher oder gar hilflos. Darina war der Inbegriff eines Menschen, der zwar behutsam vorging, aber genau wusste, was er tat.
Die beständigen Richtungswechsel mussten von oben wie ein eigenwilliger Tanz anmuten, aber nach zwei Stunden hatte Jonas davon endgültig die Nase voll. Die Kette der Reit- und Packtiere war wieder einmal zum Stehen gekommen, als Sam Chalk sich hinter ihm meldete.
»Ich krieg gleich einen Koller.«
Genauso war es Jonas damals auf dem Jahrmarkt gegangen. Aber Großvater hatte ihn getröstet, die Schausteller würden schon irgendwann die Gäste befreien. Um den Piloten etwas aufzumuntern, drehte er sich im Sattel nach hinten um und bemerkte lächelnd: »Keine Sorge, Sam, spätestens am Abend, wenn die Kassen schließen, lassen sie uns aus diesem Irrgarten raus.« Eine spiegelnde Kristallfläche schob sich vor den Piloten, weil Trojan sich plötzlich in Bewegung gesetzt hatte. Schnell drehte sich Jonas wieder nach vorne. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Der Riemen, der sein Schelpin mit Mangaars Reittier verbunden hatte, hing lose baumelnd herab.
Er trieb Trojan zu größerer Eile an. »Mangaar! Darina! Wartet!« Der Gang war inzwischen so eng geworden, dass Jonas sich um seine Beine ernstliche Sorgen machte. Die Kristallflächen waren scharf wie Rasiermesser.
»Wir sind hier.« Die Antwort klang seltsam dumpf. Jonas sah nur gläserne Wände – und viele Male sich selbst.
»Soll ich zur Spitze der Tafeln aufsteigen und sehen, ob ich sie ausmachen kann?«, fragte Kraark, der wie gewöhnlich vor dem Sattel des Jungen saß.
»Ja. Aber sei vorsichtig. Wenn du zu hoch fliegst, könntest du mich aus den
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