Das Echo der Flüsterer
belegen.«
Die drei Wilddiebe sahen sich verängstigt an. Sie hatten zwar keine Ahnung, was so ein »ewiger Alligatorfluch« genau bewirkte, aber ein Fluch war allemal nichts Gutes. Verzweifelt wurde noch einmal am Zündschlüssel gedreht – und diesmal sprang der Motor an. Der große Propeller, der in einem Drahtkäfig senkrecht auf dem Heck des Airboats montiert war, setzte sich dröhnend in Bewegung. Das Gefährt kam zunächst nur langsam in Bewegung, dann aber entwickelte der Motor seine ganze Kraft, wirbelte das flache Boot herum und trieb es in die grauen Schatten der Morgendämmerung hinein.
Jonas blickte den drei fliehenden Helden hinterher und lachte sich die Anspannung von der Seele. Die Legende von Old Big Shadow war wieder um ein Kapitel länger geworden: ein sprechender Alligator, das war wirklich mal was Neues! Mit Tränen in den Augen drehte er sich zu der Stelle um, wo noch immer der Scheinwerfer im Wasser leuchtete. Der »Alte große Schatten« war verschwunden. Zurück blieb nur das grün schimmernde Wabern im sich langsam beruhigenden See.
Den Tagesanbruch in den Everglades zu erleben war, anders als in den besiedelten Gebieten außerhalb der Sümpfe, eine ganz eigene Erfahrung. Vor allem sonntags glich Muddy Creek zu dieser Zeit noch einer Geisterstadt, so still war es.
Wohl nicht nur seiner überwältigenden Weite wegen hieß das Sumpfland in der Sprache der Indianer Pay-hay-okee, was so viel wie »Meer aus Gras« bedeutete. Wie im richtigen Ozean, so quoll auch das Reich der Alligatoren vor Leben geradezu über. In der Morgendämmerung waren zahlreiche Tiere noch äußerst rege. Zu ihnen gehörte auch der Mississippi-Alligator. Andere dagegen erwachten gerade erst, verkündeten dies aber so lautstark, als müsse die ganze Welt es erfahren. In wenigen Wochen würde die Sommerhitze restlos verschwunden sein und mit ihr die Hurrikans, die heftigen Regenschauer und die größten Moskitoschwärme. Dies war die Zeit der Morgennebel. Jonas liebte diese Stunde, wenn die Nacht noch mit dem Tag rang und alles in einem weichen unwirklichen Licht fremd und geheimnisvoll wirkte, wenn man statt Luft Leben atmete und glaubte alles erreichen zu können.
An solch einem Morgen vor drei Tagen hatte er gewusst, dass er nicht mehr länger warten durfte. Es war der 30. September 1962 gewesen und so schnell würde er diesen Sonntag nicht vergessen. Gegen vier Uhr war er aufgewacht und hatte geglaubt ein fremdartiges Geräusch zu hören. Es passte nicht zu den üblichen Stimmen der Nacht. Mehrere Minuten lang lauschte er am Fenster, aber zunächst klang alles ganz normal: Die Grillen zirpten im Garten, aus der Ferne klang hin und wieder das heisere Krächzen eines Fischreihers herüber, nichts Besonderes also.
Jonas fühlte sich erstaunlich frisch und ausgeruht. Deshalb beschloss er, nun, da er schon einmal wach war, den Sonnenaufgang in den Sümpfen zu erwarten, wie er es schon so oft getan hatte. Als er sich vom Fenster abwenden wollte, hörte er wieder das Geräusch.
Ein Kribbeln arbeitete sich Jonas’ Rücken hinauf, überlief seinen Nacken und verlor sich schließlich in den Haarspitzen am Hinterkopf. Er suchte angestrengt nach einer Erklärung für diesen Laut, aber er fand nichts, das ihn beruhigen konnte. Es war kein Wispern des Windes gewesen, kein Ruf irgendeines ihm bekannten Tieres.
Er hatte seinen Namen gehört, geflüstert von einer angenehmen, freundlichen Stimme.
Nicht zum ersten Mal hatte er dieses Raunen vernommen – aber noch nie zuvor war es so deutlich gewesen. Deutlich? Jeder andere hätte das Flüstern wahrscheinlich doch nur für das Rascheln des Windes in den Baumkronen gehalten. Es klang ja nicht gerade so, als riefe jemand von der anderen Straßenseite her: »Jonas, komm doch mal rüber!«
Aber dennoch hatte er das untrügliche Gefühl, dass dieses Raunen ihm etwas Ähnliches mitteilen wollte.
In dieser Nacht also war er in den Sumpf hinausgelaufen, hatte sich an seiner Lieblingsstelle auf den Stamm einer umgestürzten Eibe gesetzt und zugehört, wie sich das Geflüster mit dem Atem des Lebens im erwachenden Morgen mischte. Er hatte über seine Eltern nachgedacht wie schon oft zuvor. Nein, nicht wie früher. An diesem Morgen war es nicht nur ein Sichtreibenlassen, ein sehnsüchtiges Sinnieren ohne Ziel und Zweck gewesen. Im Grunde bewegte ihn schon seit Jahren die Frage, was wirklich mit seinen Eltern geschehen war. Er konnte auch nicht mehr sagen, wann er sich zum
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