Das Echo der Flüsterer
am Himmel immer höher stieg und Jonas fast mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, wanderten seine Gedanken zu jenem Tag vor fast genau vier Jahren zurück, als er dem riesenhaften Alligator zum ersten Mal begegnet war. Und von da aus bewegten sie sich noch einige weitere Monate in der Zeit stromaufwärts, an den Anfang des schönsten Sommers, den er je erlebt hatte.
In der Schule hatte er ein Mädchen kennen gelernt. Sie hieß Lydia Gustavson und stammte aus Schweden. Lydia war zart wie eine Elfe, besaß langes goldenes Haar und war im Übrigen gerade elf geworden, auf den Tag genau zwei Monate vor Jonas’ Geburtstag. Die zwei wurden dicke Freunde. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander. Jonas zeigte ihr sogar seine Lieblingsplätze in den Sümpfen, führte sie zu den Schlupfwinkeln seltener Tiere, saß stundenlang mit ihr auf dem blauen Stein, den die Indianer für eine erstarrte Träne Manitus hielten. Das stille Mädchen und der naturverbundene Junge wurden ein unzertrennliches Gespann. Bis zu jenem unseligen 28. September 1958.
Lydia war in die Sümpfe gelaufen. Ohne Jonas’ Beharrlichkeit wäre sie dort wohl auch geblieben, für immer. An diesem Tag war er zum ersten Mal zu Old Big Shadow ins Wasser gestiegen – eine verzweifelte Tat! Schon seltsam, dass er gerade dadurch sein Ziel erreicht hatte: Lydia wurde gerettet.
Doch seine Freude darüber verwandelte sich schnell in Entsetzen. Das Mädchen, das er gekannt hatte, gab es nicht mehr. Es kam Jonas fast so vor, als sei von ihr nur eine leere Hülle geblieben, die eigentliche Lydia Gustavson aber schien verschwunden. Seitdem waren Jahre vergangen und die Gustavsons wohnten schon lange nicht mehr in Muddy Creek. Jeder Versuch Lydia noch einmal wieder zu sehen war fehlgeschlagen. Warum nur hatte alles so kommen müssen? Nie hatte Jonas verstanden, weshalb sie so jäh und ohne irgendeine Spur zu hinterlassen aus seinem Leben verschwunden war.
Er versuchte die schmerzhaften Erinnerungen zu vertreiben und konzentrierte sich wieder auf seine Umgebung. Lange musste er in tiefer Versunkenheit dahinmarschiert sein. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel. Er hatte mit Absicht einen Umweg gewählt, um möglichst ein Zusammentreffen mit seinem Großvater zu vermeiden. Zuerst hatte er sich in westlicher Richtung von Muddy Creek entfernt, war also direkt in das Gebiet des Everglades National Park vorgedrungen und von dort hatte er sich dann nach Norden bewegt. Jetzt befand er sich auf der Höhe des Besucherzentrums.
Es war ungefähr zehn Uhr. Die Ranger beschäftigten sich vermutlich gerade mit ihrem zweiten Frühstück. Auch Jonas spürte seinen Magen knurren. Vorsichtig spähte er zu dem Gebäude hinüber, in dem die Parkbesucher sich gewöhnlich mit Karten und anderem Informationsmaterial eindeckten, bevor sie mit ihren Kameras auf Alligatorenjagd gingen oder der State Road 9336 weiter nach Westen folgten, an Zypressenwäldern vorbei, und dann nach Süden, zuerst durch Sumpfgrasland, dann Mangrovenwälder streifend und später über weite Grasflächen hinab nach Flamingo. Jonas kannte den ganzen Nationalpark, selbst die weiter entfernten Gebiete hatte er zusammen mit Großvater erforscht. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, nun vor dem Menschen davonzulaufen, den er doch eigentlich so liebte.
Am Besucherzentrum war alles still. Lautlos wie ein Puma huschte Jonas über die Straße. Er würde einen großen Bogen um das Main Visitor Center machen und sich anschließend parallel zur State Road nach Osten bewegen. Der Gedanke, den Nationalpark zu verlassen, behagte ihm wenig. Das »Meer aus Gras« hatte ihm immer ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Jetzt musste er ihm den Rücken kehren.
Unentdeckt passierte er das Besucherzentrum und wanderte nun direkt auf Florida City zu. Die Straße war von Pinien gesäumt, die sich auf der anderen Seite noch ein ganzes Stück nach Süden erstreckten und im Osten fast bis an die Küste reichten.
Allmählich lullte Jonas wieder der Gleichklang der Schritte ein. Seine Gedanken begannen erneut davonzutreiben. Die Baumkronen zogen wie grüne Wolken über ihn hinweg. Pinien und Klapperschlangen, beide liebten die Sonne. Jonas war jedoch erfahren genug, um zwischen einer Wurzel und einem Reptil unterscheiden zu können. Fast automatisch achtete er auf den Weg.
Schon seit frühester Kindheit war er auf besondere Weise mit der Natur hier draußen verbunden gewesen. Vor allem mit den Tieren. Sie hatten als Erste
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