Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
dieser geheimnisvollen Vorgänge sein könnte: riesige Ungetüme, außerirdische Wesen, ungewöhnlich starke Meeresströmungen, riesige Methangaswolken, die unerwartet aufstiegen und Schiffen wie Flugzeugen den Auftrieb entzogen, sodass sie jäh in die Tiefe sackten…
    Irgendwann hatte Jonas herausgefunden, dass die Theorien über das Bermudadreieck und die Legenden von Old Big Shadow erstaunliche Parallelen aufwiesen: Hier wie da gab es eine Bestie, riesig groß, mysteriös, uralt und überaus gefräßig… Aber Jonas hatte Old Big Shadow kennen gelernt, einen »Indianergeist«, damit schied für ihn alles Mysteriöse von vornherein aus.
    So reifte in ihm der Entschluss selbst herauszufinden, was mit seinen Eltern geschehen war. Die Suche musste in Washington beginnen, so viel stand fest. Die Stadt war das Machtzentrum der Vereinigten Staaten von Amerika. Irgendwo in ihren zahllosen Archiven musste die Wahrheit über den letzten Flug der Roly-Poly begraben liegen. »Im Pentagon ein Geheimnis zu finden ist unmöglich«, hatte Großvater einmal gesagt, als Jonas ihn nach den Umständen des Verschwindens der Transportmaschine fragte. Großvater hatte im Zweiten Weltkrieg den Rang eines Generals bekleidet und kannte die Gebäude des Verteidigungsministeriums in Arlington daher nicht nur von außen. Seine dann folgende Erklärung hatte Jonas aber eher neugierig gemacht als entmutigt: »Es gibt dort so viele Flure, dass man bald nur noch damit beschäftigt ist, wieder herauszufinden, und darüber ganz vergisst, aus welchem Grund man eigentlich herkam.«
    Wenn Jonas nur ein wenig mehr über die Welt außerhalb der Sümpfe und Wälder gewusst hätte, dann wäre er wohl in Muddy Creek geblieben. In gewisser Weise hatte die tiefe Verbundenheit mit der Natur ihn gegenüber den alltäglichen Problemen des menschlichen Zusammenlebens ziemlich kurzsichtig gemacht. Wie unüberwindlich die Mauern sein konnten, die Männer und Frauen von ihren Schreibtischen aus errichteten, ohne sich dabei auch nur ein einziges Mal aus den Bürosesseln zu erheben, das entzog sich völlig seiner Vorstellungskraft. Auch darin spiegelte sich das Vermächtnis seiner Mutter wider, das Großvater an ihn weitergereicht hatte: »Der Junge soll lernen selbst zu entscheiden. Weder Beamter noch Nachbar, weder Gesetz noch Gerücht, weder Staat noch irgendeine graue Masse sollen ihm sagen, welche Farbe der Himmel hat, welcher Gott sein Herz öffnet, welches Lied das schönste ist oder wen er zu lieben und wen er zu hassen hat.«
     
     
    Auch ohne genaue Kenntnis dessen, was ihn erwartete, fragte sich Jonas inzwischen, ob die Idee, einfach von zu Hause fortzulaufen und auf eigene Faust das Rätsel um seine verschwundenen Eltern zu ergründen, wirklich so gut gewesen war. Vielleicht kamen diese Zweifel daher, weil er drauf und dran war, jene Welt zu verlassen, die ihm bisher festen Halt gegeben hatte. Mit jedem Schritt entfernte er sich weiter von Muddy Creek, den Everglades, der Geborgenheit seines Zuhauses. Noch konnte er umkehren. Vielleicht hatten die Großeltern den Brief auf seinem Schreibtisch noch gar nicht entdeckt. Er blieb unschlüssig stehen und sah zum Himmel empor. Es würde ein heißer Oktobertag werden. Nicht gerade die beste Voraussetzung für einen ausgedehnten Marsch.
    Er nahm den Rucksack ab und trank einen Schluck Wasser aus der Aluminiumflasche. Sein rotes T-Shirt war auf dem Rücken ganz durchgeschwitzt, an den Hosenbeinen der blauen Jeans klebten Schlammspritzer und seine braunen Boots waren von einer dicken Dreckkruste überzogen. Er sah aus wie ein Waldläufer, der nach Monaten in der Wildnis erstmals wieder unter Menschen kommt. Nachdenklich strich er sich über das Kinn. Na ja, vielleicht hinkte dieser Vergleich etwas. Zu einem echten Einsiedler gehörte ein Vollbart. Daran haperte es bei Jonas noch. Er war mit seinen fünfzehn Jahren zwar ziemlich groß, aber seine schlaksige Figur passte nicht recht zum Klischee des mit allen Wassern gewaschenen Naturburschen. Mit seinen kurz geschnittenen, glatten braunen Haaren wirkte er denn doch mehr wie ein großer linkischer Junge.
    Sein Blick wanderte den Pfad zurück. Vielleicht war sein ganzer Plan genauso verrückt wie die Idee, Old Big Shadow eine Stimme zu verleihen. Aber schließlich – hatte es nicht funktioniert?
    Er warf sich den Rucksack wieder über die Schulter und setzte seinen Weg fort. So schnell wollte er nicht aufgeben. Nicht er. Nicht Jonas McKenelley!
    Während die Sonne

Weitere Kostenlose Bücher