Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
heirateten und konnten sich bald ein Haus am Stadtrand von Toronto leisten, dort war ich geboren worden. Meine Mutter hatte darunter gelitten, von ihrer Sprache abgeschnitten zu sein. Daheim wurde Deutsch gesprochen, ein gewähltes Deutsch, wie ich es nirgends sonst je hörte. In einer Lage wie meiner, Witwe mit Mitte dreißig, flüchtet man normalerweise zu seinen Eltern. Meine Eltern waren tot, das Haus meiner Kindheit gab es nicht mehr.
Ich stand auf, zog die festen Schuhe an, löschte das Licht und verließ die Wohnung. Der Weg zog sich in Serpentinen nach Saanen hoch. Wo es zu steil wurde, hatte man Pflöcke in den Boden getrieben und Stufen gebaut, ich hielt mich am Geländer fest. Mit jeder Biegung wurde das Land weiter, weicher. Die Alpen, hatte ich angenommen, seien schroff und majestätisch; umso mehr erstaunten mich die spätsommerliche Heiterkeit auf den Almen, die lichtdurchfluteten Wälder, Dörfer und Weiler, die sich in die Falten der Natur schmiegten, beschützt von schneebedeckten Riesen. Ich genoss, wie sich das Bild mit jedem Schritt veränderte. Lief ich daheim durch die Natur, änderte sich kaum etwas, gerade Straßen, ein tiefer Horizont. Auf meinem Weg nach Saanen wollte der Himmel erst erobert werden. In der Sohle war er ein Versprechen gewesen, danach begrenzte ihn der Nadelwald. Näherte man sich der Gemeinde, zeigten die Drei- und Viertausender im Hintergrund, dass man noch ein gewalti ges Stück hätte höhersteigen müssen, ehe man dem Himmel nahe kam.
Ich lief die Straße in den Ort hinein, vor das Gebäude der Gemeindeverwaltung. Ich hatte einen Termin mit dem Vizestadt präsidenten, was ich mir mit Stellvertreter des Bürgermeisters übersetzte. Ich wurde vorgelassen und in ein Büro geführt, in dem mich der Vizestadtpräsident erwartete, zugleich der Bruder meines Mannes.
Das Gesicht, die Haltung, selbst die Hände erinnerten so stark an Pascal, dass mir der Atem stockte. Sein Bruder schüttelte mir die Hand. Ich folgte der Einladung, mich zu setzen, nicht beim Schreibtisch; er führte mich zur Sitzgarnitur. Außer der Begrüßung hatte ich noch kein Wort hervorgebracht, sah ihn ängstlich, freudig, ungläubig an.
»Ich bin Pascals Bruder, Roman Zuermatt«, sagte er, als ob das nicht offensichtlich wäre. Er besaß Pascals freche Nase, auch seine wilden Augenbrauen. Hatten mich Pascals braune Augen immer an einen Freibeuter erinnert, der das Leben als stürmisches Gewässer nahm, passte der Blick des Bruders genau in dieses Büro; seine Augen wirkten nüchtern, ihnen fehlte Neugier und jegliche Freude.
»Ich spreche Ihnen mein Beileid aus, Frau Zuermatt«, sagte er.
»Dafür ist es zu früh.«
»Sind Sie nicht deshalb zu mir gekommen, um die Frage des Testaments zu klären?«
»Mich kümmert Pascals Testament so lange nicht, solange es Hoffnung gibt, dass er lebt.«
»Lebt?« Der Bruder nahm eine Akte und legte sie vor mich auf den Couchtisch. »Das sind die Unterlagen der Stadtverwaltung von Rio de Janeiro sowie die Bestätigung des brasilianischen Gerichts.« Während er las, legte er den Kopf zur Seite. »Man wird meinen Bruder für tot erklären, die Frist wurde auf sechs Monate anberaumt.« Er suchte nach dem Datum des Dokuments. »Das bedeutet, in knapp drei Monaten.«
Die nüchternen Fakten schockierten mich immer noch, mittlerweile wusste ich, wie ich dem begegnen konnte.
»Das ist die gängige Praxis, wenn die Leiche eines Vermissten nicht gefunden wird«, sagte ich. »Bei Unfällen im Meer darf das Gericht den Zeitraum bis zu einem Jahr verlängern, wenn auch nur die leiseste Hoffnung besteht, dass sich der Verschollene aus eigener Kraft retten konnte.« Meine Kehle wurde eng. »Die Hoffnung habe ich immer noch.«
Roman Zuermatt schüttelte den Kopf. »Im Fall meines Bruders gibt es genügend Hinweise, dass er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ertrunken ist.« Er schlug die Mappe zu. »Aufgrund des Gerichtsbeschlusses kann sein Nachlass erst eröffnet werden, wenn die Frist verstrichen ist. Sie haben sich zu früh herbemüht.«
Ich wandte mich ab. Die Kälte dieses Mannes machte mich sprachlos. Glaubte er wirklich, ich sei wegen Pascals Testament gekommen? Ich sehnte Pascal herbei, seine Berührung; wohin war mein Mann verschwunden? Keine Antwort konnte so schlimm sein wie die Endgültigkeit – Abschied von Pascal für immer! Alles in mir sträubte sich, das zu glauben. Die Wochen der Suche, fortgesetzte Expeditionen in die Höhle der Muränen,
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