Das Echo der Lüge - Miller, S: Echo der Lüge
Suche im Umland, ob jemand aufgetaucht, angespült worden sei, schwer verletzt womöglich, im Koma, mit Gedächtnisverlust, ein Namenloser. Suche in allen Krankenhäusern, Suchmeldung im Fernsehen. Bis in die Yellow Press hatte Pascal es ge schafft – Schweizer Geschäftsmann verschollen –, dieses Wort hatte mich aufgerichtet, weiter glauben, weiter handeln lassen. Er war nicht tot, nur verschollen.
Ich holte tief Luft. »Ich möchte meine Familie kennenlernen.«
» Ihre Familie?« Sein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören. Was bildete die Kanadierin sich ein, musste er denken, bloß weil sie einen Namen in ihrem Pass hatte, von dessen Wurzeln, von den Generationen, die ihn getragen hatten, sie nichts wusste.
»Ich habe Pascal als Letzte gesehen. Ich bin sicher, die Familie will erfahren …«
»Meine Mutter ist noch nicht so weit.« Er stockte, fand vielleicht den persönlichen Ton unangebracht; nicht der Vizepräsident hatte geantwortet, sondern der Sohn.
»Die Familie hat wenig zur Suche beigetragen«, sagte ich.
»Sie wurden unterstützt.«
»Von einem Berner Anwalt, und nur am Telefon.«
»Doktor Burckhardt hielt uns auf dem Laufenden.«
»Jemand von der Familie hätte kommen können.«
»Wenn es sterbliche Überreste zu überführen gegeben hätte, wären wir gekommen«, sagte Zuermatt und machte noch einmal klar, wie weit außerhalb dieser Familie ich stand.
Ich wollte erwidern, dass ich viel mehr Hilfe gebraucht hätte, doch wäre es die Wahrheit? Die Behörden vor Ort hatten alles getan, mich zu unterstützen. Dass ich am Ende allein am Strand saß und um Pascal trauerte, konnte ich niemandem vorwerfen. Manchmal hatte ich das Gefühl, ihm in dieser Zeit näher gewesen zu sein als je zuvor. Die Sehnsucht war ein Kokon, in den ich mich eingesponnen hatte, eine Welt, in der es nur Pascal und mich gab, die Welt der Wünsche, der verklärten Erinnerungen, genährt von dem Funken Hoffnung, dass Pascal da war und irgendwo auf mich wartete.
Roman Zuermatt stand auf. Seine Augen blickten etwas freund licher, er räusperte sich und sagte: »Ich will mit Mutter sprechen.« Er gab mir die Hand. »Ich werde mein Möglichstes tun.«
2
Das Elend war wieder da. In der Enge der Ferienwohnung, der Schlucht, wo schon die Nacht hereinbrach, während oben noch die blaue Stunde herrschte, saß ich auf dem soliden Holzbett, Schweizer Bauart. Wo bist du, Pascal? Ist meine Hoffnung nur Trotz gewesen? War es nicht wahrscheinlicher, dass er derselben Muräne zum Opfer gefallen war, der wir beim Fressen zugesehen hatten? Wohin führte mein verbissener Glaube an das Unmögliche? Ich lief in dem beengten Viereck auf und ab. Seit Pascals Verschwinden war mein kurz geschnittenes dunkles Haar so weit nachgewachsen, dass ich die Büschel packen konnte.
Die Unterwasserhöhle war bis in den letzten Winkel abgesucht worden. Sie hatten Pascal nicht gefunden, nur sein Atemgerät und die Flaschen, zwischen zwei Felsblöcken verkeilt. Die Taucher hatten Fotos davon gemacht. Pascal musste eingeklemmt gewesen sein, lautete die Analyse, musste, um sich zu befreien, die Flaschen abgenommen haben und ohne Atemhilfe weitergeschwommen sein, musste sich unter Wasser verirrt, den Ausgang der Höhle nicht gefunden haben und ertrunken sein. Vielleicht war er auch durch den unterlassenen Druckausgleich ums Leben gekommen, nach oben geschwommen und kollabiert. Dann hät te er allerdings angeschwemmt worden sein müssen. Ich starrte aus dem Fenster ins Schwarze.
Umringt von Zetteln, durch die ich meinem Kummer mit Sachlichkeit begegnen, meine Gefühle durch Fragen begrenzen wollte, konnte ich das Elend nicht länger fernhalten, warf mich aufs Bett, weinte und hoffte einzuschlafen.
Der Schlaf kam nicht, aber die Verklärung, wie schön alles gewesen war. Ich setzte mich auf, öffnete den Laptop und ließ die Schnappschüsse unserer gemeinsamen Zeit erscheinen. Ich dachte an meine Mutter, die zu solchen Anlässen ihren Schuhkarton mit den Familienfotos hervorgeholt hatte. Heutzutage konnte man die guten und die schlechten Zeiten nicht mehr anfassen, ein Bildschirm musste genügen, auf dem die Fotos nie vergilbten.
Pascal war ein Fremdkörper auf der Comicmesse gewesen, zu reich, zu teuer gekleidet unter all den vorwiegend jungen Lesern. Ich lächelte in die Dunkelheit. Da ich als freie Übersetzerin nicht genug verdiente, hatte ich mich damals mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten müssen. Die Messe war international, die Auswahl
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