Das Echo der Traeume
Erinnerung an ihn überfiel mich zu jeder beliebigen Zeit, immer musste ich an ihn denken, jede Minute: wenn ich das Bett machte, mir die Nase putzte, eine Orange schälte oder Stufe um Stufe die Treppe hinunterging – ständig hatte ich ihn vor Augen.
Ignacio und meine Mutter waren unterdessen mit den Hochzeitsvorbereitungen beschäftigt. Ich aber konnte ihre Vorfreude nicht teilen. Nichts freute mich, nichts weckte auch nur das geringste Interesse bei mir. Es werden die Nerven sein, dachten sie. Ich bemühte mich inzwischen, mir Ramiro aus dem Kopf zu schlagen, damit ich mich nicht mehr an seine Stimme an meinem Ohr erinnerte, an seinen Daumen, der zärtlich über meinen Mund strich, an seine Hand, die meinen Oberschenkel hinaufwanderte, und an jene letzten Worte, die er mir nachschickte, als ich ihm im Café den Rücken zukehrte und ging, überzeugt, dass ich diesem Wahnsinn damit ein Ende machen würde. » Komm mal wieder vorbei, Sira. Komm vorbei.«
Ich kämpfte mit aller Macht dagegen an. Ich kämpfte und verlor. Es gelang mir nicht, der rasenden Leidenschaft, die jener Mann mich hatte fühlen lassen, ein Mindestmaß an Vernunft entgegenzusetzen. Sosehr ich auch danach suchte, ich fand nichts, was mir Kraft gegeben hätte, woran ich mich hätte festhalten können, damit es mich nicht immer weiter zu ihm hinzog. Weder mein zukünftiger Mann, den ich in weniger als einem Monat heiraten sollte, noch meine rechtschaffene Mutter, die sich so viel Mühe gegeben hatte, mich zu einer anständigen und verantwortungsbewussten Frau zu erziehen. Nicht einmal die Tatsache konnte mich bremsen, dass ich kaum etwas über jenen Fremden wusste und keine Ahnung hatte, welches Schicksal mich an seiner Seite erwartete.
Neun Tage nach dem ersten Besuch bei Hispano-Olivetti ging ich erneut hin. Wie bei den Malen zuvor begrüßte mich wieder das Glöckchen über der Tür. Kein dicker Verkäufer eilte herbei, um nach meinen Wünschen zu fragen, kein Ladendiener, kein anderer Angestellter. Nur Ramiro empfing mich.
Ich ging mit, wie ich hoffte, festem Schritt auf ihn zu und hatte mir schon zurechtgelegt, was ich sagen wollte. Doch ich kam nicht dazu. Er ließ mich nicht. Sobald ich vor ihm stand, packte er mich im Nacken und drückte mir einen so heftigen, so sinnlichen und langen Kuss auf den Mund, dass mein Körper vor Überraschung vollkommen wehrlos war, drauf und dran, dahinzuschmelzen und sich in eine Lache zuckersüßer Melasse zu verwandeln.
Ramiro Arribas war vierunddreißig Jahre alt, hatte eine bewegte Vergangenheit und eine derartige Verführungskraft, dass nicht einmal eine Mauer aus Beton ihr hätte Widerstand leisten können. Zuerst: Anziehung, Zweifel und Angst. Dann: abgründige Leidenschaft. Ich sog begierig die Luft ein, die er atmete, und an seiner Seite schwebte ich zwei Handbreit über dem Straßenpflaster. Meinetwegen hätten die Flüsse über die Ufer treten, die Häuser einstürzen und die Straßen von der Landkarte verschwinden, hätten sich Himmel und Erde vereinen und das Universum mir vor die Füße fallen können – es hätte mich nicht gekümmert, solange nur Ramiro bei mir war.
Ignacio und meine Mutter begannen zu argwöhnen, dass etwas Ungewöhnliches mit mir geschah, etwas, das über die simple Angespanntheit angesichts der bevorstehenden Hochzeit hinausging. Aber sie kamen nicht dahinter, warum ich so aufgeregt war, und fanden keine Erklärung für meine ständige Geheimnistuerei, für meine überstürzten Ausflüge und das hysterische Lachen, das ich bisweilen nicht unterdrücken konnte. Es gelang mir nur einige wenige Tage, dieses Doppelleben zu führen, doch das genügte, um zu erkennen, wie die Waage mit jeder Minute mehr aus der Balance geriet, wie sich das Gewicht immer mehr zu Ramiros Gunsten verschob. Es dauerte keine Woche, bis ich wusste, dass ich mich von meinem alten Leben lossagen und mich ins kalte Wasser stürzen musste. Der Moment war gekommen, einen Schlussstrich zu ziehen, meine Vergangenheit hinter mir zu lassen.
Am späten Nachmittag stand Ignacio vor der Tür.
» Warte auf der Plaza auf mich«, flüsterte ich ihm durch den Türspalt zu. Meiner Mutter hatte ich es beim Essen gesagt, jetzt durfte ich auch ihn nicht mehr im Unklaren lassen. Fünf Minuten später – ich hatte mir noch die Lippen nachgezogen – ging ich hinunter, in der einen Hand meine neue Handtasche, in der anderen die Lettera 35. Er erwartete mich auf derselben Bank wie immer, auf jenem Stück kalten
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