Das Echo der Traeume
im Geringsten.
Da mir links wie rechts der Fluchtweg versperrt war und es hinter dem Geländer der Loge nur in die Tiefe ging, blieb mir lediglich die Möglichkeit, auf dem Weg zu flüchten, den wir gekommen waren, obwohl es geradezu tollkühn wäre. Es gab nur einen Zugang zu den Logen, das hatte ich beim Herkommen festgestellt: eine Art Korridor mit Backsteinpflaster, kaum drei Meter breit. Wenn ich mich auf diesem Weg zurückzog, riskierte ich mit großer Wahrscheinlichkeit, den Deutschen geradewegs in die Arme zu laufen. Und unter ihnen würden Personen sein, denen ich hier keinesfalls begegnen wollte – meine deutschen Kundinnen, die unbedacht und nur allzu oft Bemerkungen fallen ließen, die ich wiederum mit einem falschen Lächeln aufhob und sie als Informationen dem Geheimdienst des Feindes übermittelte; Damen, bei denen ich stehen bleiben müsste, um sie freundlich zu begrüßen, und die sich zweifellos argwöhnisch fragen würden, warum ihre marokkanische Schneiderin wie die Seele vor dem Teufel aus einer Loge voller Engländer floh.
Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, ließ ich Gonzalo inmitten seiner Freunde zurück und setzte mich in die am besten geschützte Ecke der Loge, das Revers meiner Jacke hochgeschlagen, den Kopf halb gesenkt, in der – naiven – Hoffnung, mich an diesem Ort, wo man sich unmöglich verstecken konnte, unsichtbar zu machen.
» Geht es dir nicht gut? Du bist so blass«, sagte mein Vater und reichte mir dabei ein Schälchen Obstsalat.
» Mir ist ein bisschen schwindelig, das geht gleich vorbei«, schwindelte ich.
Gäbe es auf der Farbskala noch eine dunklere Farbe als Schwarz, dann hätte meine Stimmung diesen Farbton angenommen, als es in der deutschen Loge nebenan Bewegung gab. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie weitere Soldaten sie betraten, hinter ihnen ein höherer Militär mit stämmiger Statur, der hierhin und dorthin wies und Befehle erteilte und verächtliche Blicke in Richtung der englischen Loge warf. Ihm folgten mehrere Offiziere in Uniform mit auf Hochglanz polierten Stiefeln und der unvermeidlichen Hakenkreuzbinde am Arm. Sie ließen sich nicht einmal dazu herab, in unsere Richtung zu sehen, sondern demonstrierten ihre Verachtung für die Gäste in der benachbarten Loge schlicht mit ihrer abweisenden, hochmütigen Haltung. Anschließend trafen noch ein paar Männer im Straßenanzug ein, und ich stellte mit Entsetzen fest, dass mir das eine oder andere Gesicht bekannt vorkam. Wahrscheinlich verbanden sie alle, Militärs wie Zivilisten, etwas anderes mit diesem Ereignis und erschienen deshalb praktisch alle auf einmal, gruppenweise und gerade rechtzeitig, um das erste Galopprennen zu sehen. Im Augenblick waren nur Männer anwesend, und es sollte mich sehr wundern, wenn nicht umgehend auch ihre Gattinnen auftauchen würden.
Die Stimmung wurde von Minute zu Minute angeregter, und im selben Maß verstärkte sich meine Beklemmung. Die Engländer hatten sich gestärkt, die Ferngläser gingen von Hand zu Hand, und man plauderte mit derselben Beiläufigkeit über turf, paddock und jockeys wie über den Einmarsch der Deutschen in Jugoslawien, ihre schrecklichen Bombenangriffe auf London oder Churchills jüngste Rede im Radio. Und in diesem Moment sah ich ihn. Und er mich. Ich bekam einen solchen Schreck, dass mir fast die Luft wegblieb. Mit einer elegant gekleideten blonden Frau am Arm, vermutlich seine Gattin, trat Captain Alan Hillgarth in die Loge. Für den Bruchteil einer Sekunde ruhte sein Blick auf mir, zeigte er einen winzigen Moment lang eine Irritation, die jedoch nur ich wahrnahm und er sofort unterdrückte, dann warf er einen raschen Blick in die deutsche Loge, in die noch immer neue Gäste hereinkamen.
Ich stand auf, um ihm nicht direkt ins Gesicht sehen zu müssen, denn ich war überzeugt, das wäre das Ende, dann säße ich endgültig in der Falle. Ein dramatischeres Finale für meine kurze Karriere als Mitarbeiterin des britischen Geheimdienstes hätte man sich nicht ausdenken können: Es fehlte nicht viel, und ich würde in aller Öffentlichkeit enttarnt, vor meinen Kundinnen, vor meinem Vorgesetzten und vor meinem eigenen Vater. Ich klammerte mich so fest an das Geländer, dass meine Fingerknöchel weiß wurden, und wünschte mir mit aller Kraft, dass dieser Tag niemals gekommen wäre: dass ich niemals aus Marokko fortgegangen, niemals jenen absurden Vorschlag akzeptiert hätte, durch den ich zu einer unvorsichtigen, ungeschickten
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