Das Echo der Traeume
war, nahm die letzte Szene die gesamte Bildfläche in Anspruch: der Kuss Manuel da Silvas. Ich hatte noch immer seinen Geschmack auf den Lippen, war aber nicht in der Lage, ihm ein Adjektiv zuzuordnen. Spontan, leidenschaftlich, zynisch, sinnlich. Vielleicht alles gleichzeitig. Oder nichts von alledem.
Ich setzte mich gerade hin und blickte, schon gewiegt vom sanften Rattern des Zuges, durch das Fenster. Schnell zogen vor meinen Augen die letzten Lichter von Lissabon vorüber, immer weniger intensiv und immer verwischter, immer seltener werdend, bis die Landschaft in Dunkel getaucht war. Ich stand auf, ich brauchte frische Luft. Zeit zum Abendessen.
Der Speisewagen war schon fast voll. Voller Menschen, voller Essensgerüche, voller Besteckgeklapper und Stimmengewirr. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis man mir einen Platz zuwies. Ich wählte mein Essen und bestellte Wein, um meine Freiheit zu feiern. Die Wartezeit vertrieb ich mir, indem ich mir meine Ankunft in Madrid vorstellte und Hillgarth’ Reaktion, wenn er erfuhr, welche Ergebnisse ich mitgebracht hatte. Wahrscheinlich hätte er nie vermutet, dass sich diese Mission als so lohnend erweisen würde.
Der Wein und das Essen kamen schnell, doch inzwischen hatte ich schon die Gewissheit, dass diese Mahlzeit nicht genussvoll werden würde. Der Zufall hatte dafür gesorgt, dass ich in der Nähe von zwei ordinären Individuen saß, die mich unverhohlen anstarrten, seitdem ich Platz genommen hatte. Zwei grobschlächtige Typen, die gar nicht zu der ruhigen Atmosphäre im Speisewagen passten. Auf ihrem Tisch standen zwei Weinflaschen und eine Menge Speisen, die sie verschlangen, als würde noch in dieser Nacht die Welt untergehen. Ich konnte den bacalhau à Brás, den gegrillten Kabeljau, kaum genießen; die Stofftischdecke, das geschliffene Weinglas und die steife Aufmerksamkeit der Kellner spielten plötzlich keine Rolle mehr. Jetzt wollte ich das Essen so schnell wie möglich hinter mich bringen, um in mein Abteil zurückkehren zu können und diese unliebsame Gesellschaft loszuwerden.
Als ich es betrat, waren die Vorhänge zugezogen, das Bett bezogen und alles für die Nacht vorbereitet. Der Zug würde immer ruhiger und leiser dahinrollen. Fast ohne es zu merken, würden wir Portugal verlassen und die Grenze überqueren. Jetzt wurde mir bewusst, wie wenig ich in letzter Zeit geschlafen hatte. Die frühen Morgenstunden des Abreisetages hatte ich damit zugebracht, Nachrichten zu transkribieren, am Tag davor hatte ich im Morgengrauen Rosalinda aufgesucht. Mein Körper brauchte eine Atempause, und so beschloss ich, mich sofort hinzulegen.
Ich öffnete mein Handköfferchen, hatte jedoch keine Zeit, etwas herauszuholen, weil mich in diesem Moment ein Klopfen an der Tür innehalten ließ.
» Tickets«, hörte ich. Vorsichtig öffnete ich und vergewisserte mich, dass es der Kontrolleur war. Aber ich merkte auch, dass er – wahrscheinlich ohne es zu wissen – nicht allein auf dem Gang war. Hinter dem Schaffner, in kaum ein paar Metern Entfernung, sah ich im Rhythmus des schaukelnden Zuges zwei schattenhafte Gestalten taumeln. Zwei unverwechselbare Gestalten: die der beiden Männer, die mich während des Abendessens gestört hatten.
Kaum hatte der Schaffner seine Aufgabe erledigt, verriegelte ich die Tür, fest entschlossen, sie bis zur Ankunft in Madrid nicht mehr zu öffnen. Das Letzte, was ich nach den schlimmen Erlebnissen in Lissabon brauchen konnte, waren ein paar unverschämte Reisende, die mit der Nacht nichts Besseres anzufangen wussten, als mich zu belästigen. Nun endlich machte ich mich bettfertig. Körperlich und seelisch erschöpft, musste ich unbedingt alles vergessen, und wenn auch nur für ein paar Stunden.
Ich begann aus dem Necessaire zu holen, was ich benötigte: die Zahnbürste, eine Seifendose, die Nachtcreme. Wenige Minuten später merkte ich, dass der Zug an Geschwindigkeit verlor. Wir näherten uns einem Bahnhof, dem ersten auf dieser Fahrt. Nachdem ich den Vorhang zurückgeschoben hatte, las ich » Entroncamento«.
Nur wenige Sekunden später klopfte es erneut an meine Tür. Kräftig, beharrlich. So klopfte kein Schaffner. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt, verhielt ich mich ganz still, entschlossen, nicht zu reagieren. Ich hatte so eine Ahnung, dass es die Männer aus dem Speisewagen wären, und ihnen würde ich auf keinen Fall öffnen.
Aber es klopfte weiter. Jetzt noch heftiger. Und dann hörte ich, wie jemand meinen Namen sagte. Und
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