Das Echo der Traeume
erkannte die Stimme.
Ich schob den Riegel zurück.
» Du musst aussteigen. Da Silva hat zwei Leute hier drin. Sie sind hinter dir her.«
» Der Hut?«
» Der Hut.«
64
Meine Panik vermischte sich mit dem Bedürfnis, lauthals zu lachen. Ein bitteres, maliziöses Lachen. Wie seltsam Gefühle doch sind, wie trügerisch! Ein bloßer Kuss hatte meine Überzeugung von Manuel da Silvas moralischer Verkommenheit ins Wanken gebracht, und kaum eine Stunde später stellte ich fest, dass er den Befehl gegeben hatte, mich zu beseitigen und meine Leiche nächtens aus einem Zugfenster zu werfen. Der Judaskuss.
» Du brauchst nichts mitzunehmen außer deinen Dokumenten«, erklärte Marcus. » In Madrid bekommst du alles wieder.«
» Es gibt etwas, das ich nicht zurücklassen kann.«
» Du darfst nichts mitnehmen, Sira. Dazu ist keine Zeit, der Zug fährt gleich wieder los. Wenn wir uns nicht beeilen, müssen wir während der Fahrt abspringen.«
» Nur eine Sekunde …« Ich ging zum Koffer und wühlte seinen Inhalt durch. Das Seidennachthemd, ein Pantoffel, die Haarbürste, eine Flasche Kölnisch Wasser: All das verteilte ich auf Bett und Boden wie eine Wahnsinnige. Es sah aus, als hätte ein Tornado gewütet. Endlich fand ich ganz unten, was ich suchte: das Heft mit den falschen Schnittmustern, die millimetergenau skizzierte Bestätigung für Manuel da Silvas Verrat an den Engländern. Ich drückte es so fest ich konnte an meine Brust.
» Gehen wir«, sagte ich, während ich mit der anderen Hand die Tasche nahm. Auch die konnte ich nicht zurücklassen, weil darin der Pass war.
Der Pfiff kündigte die Abfahrt an, und noch im selben Augenblick liefen wir auf den Gang. Als wir die Tür erreichten, hatte die Lokomotive bereits mit ihrem Pfeifen geantwortet, und der Zug setzte sich in Bewegung. Marcus sprang zuerst hinaus, während ich das Heft, die Tasche und meine Schuhe auf den Bahnsteig warf. Ich würde barfuß springen müssen, sonst würde ich mir beim Aufkommen auf den Boden den Knöchel brechen. Marcus streckte mir die Hand entgegen, ich ergriff sie und sprang.
Die wutschnaubenden Schreie des Stationschefs erklangen erst ein paar Sekunden später. Wir sahen ihn auf uns zurennen und dabei wild die Arme schwenken. Drei Eisenbahner traten, von seinem Gebrüll alarmiert, aus dem Bahnhof. Der Zug hingegen, der nicht mitbekam, was hinter ihm geschah, fuhr weiter und nahm Fahrt auf.
» Los, Sira, mach schon, wir müssen hier weg«, drängte Marcus.
Er hob einen meiner Schuhe auf und streckte ihn mir hin, dann den anderen. Ich hielt sie in den Händen, zog sie aber nicht an: Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas anderes. Inzwischen hatten sich alle drei Angestellten um uns versammelt und rügten uns für den Vorfall, wie sie ihn erlebt hatten, während uns der Stationschef schreiend und mit den Armen fuchtelnd Vorwürfe machte. Ein Bettlerpärchen näherte sich neugierig, Sekunden später gesellten sich auch die Kantinenwirtin und ein junger Kellner zu der Gruppe und erkundigten sich, was vorgefallen sei.
Und dann, inmitten dieses Chaos aus Ermahnungen, erhitzten Gemütern und einander überlagernden Stimmen, hörten wir das durchdringende Kreischen des bremsenden Zuges.
Plötzlich rührte sich am Bahnsteig überhaupt nichts mehr, so, als wäre ein Laken aus Stille darübergebreitet worden, während die Räder mit einem langanhaltenden, hohen Ton auf den Schienen knirschten.
Marcus fand als Erster die Sprache wieder.
» Sie haben die Notbremse betätigt.« Seine Stimme war jetzt sehr ernst, fast gebieterisch. » Sie haben bemerkt, dass wir abgesprungen sind. Los, Sira, wir müssen augenblicklich weg von hier.«
Wie aufgezogen trat die ganze Gruppe wieder in Aktion. Erneut Gebrüll, Befehle, ziellose Schritte und zornentbrannte Gesten.
» Wir können nicht weg«, gab ich zurück. Ich drehte mich dabei um mich selbst und suchte den Boden mit dem Blick ab. » Ich kann mein Heft nicht entdecken.«
» Vergiss das verdammte Heft, lieber Himmel!«, rief er ärgerlich. » Sie kommen dich holen, Sira, sie haben den Befehl, dich zu töten!«
Ich spürte, wie er meinen Arm packte und daran zog, bereit, mich notfalls von dort wegzuschleifen.
» Du verstehst das nicht, Marcus. Ich muss es finden, unbedingt, es darf nicht hier liegen bleiben«, beharrte ich und suchte weiter. Bis ich endlich etwas entdeckte. » Da ist es! Da!«, schrie ich, deutete auf etwas in der Dunkelheit und versuchte mich zu befreien. » Da, auf
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