Das Echo der Traeume
von der Tür aus sehen konnte: eine geräumige Diele mit leeren Wänden, ein mit weißen und granatroten Fliesen in einem geometrischen Muster ausgelegter Boden. Weiter hinten ein Flur. Rechts ein großer Salon.
Es hatte im Laufe der Jahre viele Momente gegeben, in denen mein Leben eine unerwartete Wendung nahm, mit Überraschungen und Hindernissen aufwartete, denen ich mich augenblicklich stellen musste. Manchmal war ich darauf vorbereitet, meistens nicht. Niemals aber war ich mir so sehr bewusst gewesen, dass ich einen neuen Lebensabschnitt begann, wie an jenem Mittag im Oktober, an dem meine Füße es endlich wagten, die Schwelle zu überschreiten, und jeder Schritt in der leeren Wohnung nachhallte. Zurück blieb eine schwierige Vergangenheit, und vor mir öffnete sich, wie ein Vorzeichen, ein weiter, leerer Raum, der sich mit der Zeit füllen würde. Füllen womit? Mit Gegenständen und Gefühlen. Mit Momenten, Empfindungen und Personen. Mit Leben.
Ich trat in den im Halbdunkel liegenden Salon. Drei geschlossene Balkontüren, geschützt durch Fensterläden aus grün gestrichenem Holz, die das Tageslicht aussperrten. Ich öffnete einen nach dem anderen, und der marokkanische Herbst ergoss sich in das Zimmer, vertrieb die Schatten wie ein verheißungsvolles Omen.
Ich wollte die Stille und das Alleinsein eine Weile genießen und tat erst einmal gar nichts, sondern blieb nur mitten in dem leeren Raum stehen, um meinen neuen Platz in der Welt in mich aufzunehmen. Nach einigen Minuten hatte ich das Gefühl, meine Lethargie abschütteln zu müssen, und brachte so viel Entscheidungskraft auf, dass ich mich in Bewegung setzte. Mit der Erinnerung an Doña Manuelas früheres Atelier im Hinterkopf ging ich durch die gesamte Wohnung und teilte sie im Geiste auf. Der Salon sollte als großzügiges Empfangszimmer fungieren, dort sollten Ideen präsentiert, Modezeichnungen zurate gezogen, Stoffe und Schnitte ausgewählt und Aufträge erteilt werden. Das Zimmer neben dem Salon, eine Art Esszimmer mit einem Erker an der Ecke, würde ich zur Anprobe machen. Ein Vorhang in der Mitte des Flurs würde diesen äußeren Bereich vom Rest der Wohnung trennen. Die Zimmer auf dem anschließenden Flurabschnitt würden zum Arbeitsbereich: Näherei, Stofflager, Bügelzimmer, Raum zur Aufbewahrung der fertigen Teile und der Entwürfe, für alles, was darin Platz hatte. Der hinterste Abschnitt der Wohnung schließlich, der dunkelste und am wenigsten ansprechende, würde mein Reich sein. Dort würde mein wahres Ich seinen Platz finden, die traurige Frau, die ihre Heimat unfreiwillig hatte verlassen müssen, die bis über die Ohren verschuldet, mit Forderungen überhäuft und voller Unsicherheit war. Deren gesamtes Kapital aus einem halb leeren Koffer und einer alleinstehenden Mutter in einer fernen Stadt, die um ihr Überleben kämpfte, bestand. Die wusste, dass sie ihr Geschäft nur um den Preis einer Menge Pistolen aufbauen konnte. Hier sollte mein Zufluchtsort sein, mein ganz privater Bereich. Hier würde, falls mir das Glück nicht länger die kalte Schulter zeigte, der öffentliche Bereich der Schneiderin beginnen, die aus der spanischen Hauptstadt gekommen war, um im Protektorat das eleganteste Modeatelier weit und breit einzurichten.
Als ich wieder in Richtung Eingang ging, hörte ich, wie jemand mit den Fingerknöcheln an die Tür klopfte. Ich wusste, wer es war, deshalb öffnete ich sofort. Candelaria glitt herein wie ein großer dicker Wurm.
» Und, wie findest du’s? Gefällt’s dir?«, fragte sie ungeduldig. Sie hatte sich für diesen Besuch regelrecht aufgeputzt und trug eines der Kostüme, die ich ihr genäht hatte, dazu Schuhe, die sie von mir geerbt hatte und die ihr zwei Nummern zu klein waren. Und ihre Busenfreundin Remedios hatte ihr in aller Eile eine etwas pompöse Frisur verpasst. Die dunklen Augen unter dem ungeschickt aufgetragenen Lidschatten funkelten erregt. Auch für die Schmugglerin war es ein besonderer Tag, der Beginn von etwas Neuem und Unerwartetem. Mit dem Geschäft, das demnächst anlaufen sollte, hatte sie zum ersten und einzigen Mal in ihrem bewegten Leben einen richtig großen Einsatz gewagt. Vielleicht würde sie dieser neue Lebensabschnitt für die Entbehrungen ihrer Kindheit entschädigen, für die Prügel ihres Ehemannes und die ständigen Drohungen der Polizei, die sie seit Jahren zu hören bekam. Drei Viertel ihres Lebens hatte sie sich mit Müh und Not durchgeschlagen, hatte alle nur
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