Das Echo der Vergangenheit
hatte ihr erzählt, Sofie hätte sich das Leben genommen, aber das stimmte gar nicht. Sie träumte nachts von Sofie. Manchmal waren die Träume wie ein Film. Manchmal waren sie so real, dass sie Sofies Umarmungen spürte, ihr Haar und das Parfüm riechen konnte, das sie immer getragen hatte. Bis jetzt hatte sie das Parfüm noch nicht gefunden, aber immer, wenn Daddy sie mit in ein Kaufhaus nahm, roch sie an den Testflaschen, nur für den Fall.
Es war ein Schock gewesen, als sie Sofies Nummer in seinem Handy gefunden hatte. Wenn sie doch tot war, warum hatte er dann noch ihre Nummer? Erst hatte sie gedacht, dass er vielleicht noch eine andere Sofie kannte. Also hatte sie die Nummer angerufen und die Stimme gehört. Nicht eine andere; es war ihre Sofie. Es hatte so wehgetan, dass sie nichts sagen konnte, also hatte sie einfach aufgelegt. Lange hatte sie sich nicht getraut, es noch einmal zu versuchen. Aber dann hatte sie es doch getan, nur um ihre Stimme zu hören.
Sie dachte, Sofie würde wütend werden und ihr sagen, sie solle nicht mehr anrufen. Aber das hatte sie nicht. Sie hatte gefragt, wer dran war und was los war. Hatte so gefragt, als wollte sie es wirklich wissen. Daddy würde nicht wollen, dass sie irgendetwas sagte, also hatte sie nichts erzählt. Bis der Mann drangegangen war. Das hatte sie so überrascht, dass sie gesprochen hatte, obwohl sie es gar nicht wollte. Wer war er überhaupt?
Sie hatte gehofft, Sofie würde sie suchen und nicht ein anderes Kind finden, das sie lieb hatte. Sie hatte gehofft, Sofie würde sie nicht vergessen. Gab es jetzt, wenn sie träumte, andere Menschen, die Sofie zum Lachen brachten? Andere, die umarmt wurden?
Tränen brannten in ihren Augen. Sie wünschte sich, sie hätte nicht angerufen. Sie musste weiter so tun, als ob. Sie hatte Bauchschmerzen, in ihrem Magen bildete sich ein Gefühl der Wut. Es war nicht fair. Er hatte kein Recht auf Sofie. Wer auch immer er war, sie hasste ihn.
Kapitel 4
Matt hatte die Price-Kinder an Cassinia übergeben, die sie für die Nacht bei einer Pflegefamilie untergebracht hatte. Sie würde den Fall übernehmen und die Besuche und die Versöhnungsbemühungen überwachen. Da er Zeuge der häuslichen Gewalt geworden war und er derjenige war, der die Kinder herausgeholt hatte, würde Cassinia die besseren Chancen haben, das Vertrauen der Familie zu gewinnen, zu entscheiden, ob die Eltern ein stabiles Zuhause bieten konnten, und festzustellen, welche Beratungsangebote nötig waren.
Als intervenierender Sozialarbeiter arbeitete er an der eidesstattlichen Erklärung für die einseitige Sorgerechtsanfrage. Die würde er an die Staatsanwältin Diana Myer weitergeben und danach würde er dann nichts mehr mit der Sache zu tun haben, bis die Anhörung stattfand. Wenn man ihn fragte, würde er obligatorische Urintests und Hausbesuche empfehlen, eine Therapie für Price und eventuell ein psychologisches Gutachten für beide. Wahrscheinlich war sich Vivian Price dessen gar nicht bewusst, wie fest sie das Kleinkind angefasst hatte, weil sie unter Drogen stand. Aber das änderte nichts an der Schmerzhaftigkeit ihres Griffs und den blauen Flecken, die er verursachte.
Er legte die Hände in den Nacken und lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Sein mit Stellwänden abgetrennter Arbeitsplatz war nicht größer als eine Zelle und an den Seiten standen hässliche beige-farbene Aktenschränke, die er von seinen Vorgängern übernommen hatte. Die meisten Geschichten in den Akten waren gleich, eine endlose Reihe von Situationen, auf die es keine befriedigenden Antworten gab. Aber er hatte sich für diese Arbeit entschieden.
Mit einem Juraexamen der Universität von Columbia hatte er eine Position in einer Bostoner Kanzlei ergattert und sich bereits ein hübsches finanzielles Polster geschaffen, als man ihm eine Juniorpartnerschaft anbot. Drei Tage lang hatte er darüber nachgedacht, dann hatte er die Kanzlei verlassen, um auf Sozialarbeit umzusatteln. Das Studium war nach dem harten Juristendasein ein Kinderspiel gewesen. Der Job selbst war allerdings alles andere als das. Es gab Tage – wie diesen –, an denen er sich fragte, wann er wohl den Verstand verlieren würde.
Die kleinen Gesichter verfolgten ihn in seinen Träumen und ließen ihn nicht mehr los. Er musste aufhören, an die Price-Kinder zu denken. Der Fall war jetzt in Cassinias Zuständigkeitsbereich. Er hatte andere Dinge zu tun: Erziehungs- und Konfliktberatungsbescheinigungen
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