Das Echo der Vergangenheit
Schultern hängen. »Ich weiß nicht, wo ich sonst noch nachsehen soll. Ich bin jetzt durch jede Straße in der Stadt gefahren und es wird allmählich dunkel.«
Sofie sagte: »Ich verstehe nicht, wie sie ihn einfach im Stich lassen kann. Warum sollte sie das tun?«
»Ich weiß nicht.« Er rieb sich das Kinn und ging in die Küche.
Rese drehte sich um. »Sie hat ihn Lance gegeben.«
Sofie legte ihre Karteikarte ab. »Wie bitte?«
»Sie sagte, Lance habe ihn direkt nach der Geburt zum Atmen gebracht und er solle ihn behalten.«
»Was?«
»Er hat nicht geatmet. Maria saß nur da und schrie wie am Spieß, also hat Lance den Kleinen hochgenommen und da fing er zu atmen an. Maria denkt jetzt, Lance habe den leblosen Körper zum Leben erweckt.«
Vor einigen Monaten hatte Lance einem Mann vergeben, der ihren Großvater und ihren Urgroßvater hatte umbringen lassen. Er hatte sich in Nonnas bewegte Vergangenheit gestürzt, bis Mama vor Sorge ganz außer sich war, aber während dieser Phase hatte er Gott sehr intensiv erlebt.
Rese sagte: »Als er und Antonia hier ankamen, ist er ohnmächtig zusammengebrochen. Er konnte kaum essen. Antonia sagt, der Auftrag der Versöhnung habe ihn alle seine Kräfte gekostet. In der Nacht, als Maria ihr Baby bekam, war er sehr angespannt.«
»Er war schon immer leidenschaftlich.«
»Nun, dass der kleine leblose Körper zu atmen begann, als Lance ihn auf den Arm nahm, grenzt schon an ein Wunder und hat bestimmt auch mit Lance zu tun, der seinen Glauben sehr ernst nimmt.«
»Ich weiß nicht.« Sofie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Es gibt eine Stelle in der Bibel, in der steht, dass nicht mehr wir es sind, die leben, sondern Christus, der in uns lebt. Vielleicht kann Gott einen Funken in jemandem entzünden, der bereit ist und sich dafür öffnet, sein Werk zu tun. Lance wollte schon immer Großes für Gott tun.«
Rese ging im Zimmer auf und ab. »Jedenfalls ist Maria jetzt ganz durcheinander.« Sie sah aus dem Fenster. »Oder sie hatte schon die ganze Zeit vor, das Baby aufzugeben.«
»Kam es dir so vor?«
»Nein. Sie hat ihn doch immer im Arm gehalten. Aber das Baby ist schon beinahe eine Woche alt und sie hat ihm immer noch keinen Namen gegeben. Und heute Morgen sah sie wirklich schrecklich aus, so, als hätte sie die ganze Nacht über geweint.«
»Wochenbettdepression?«
»Ich habe keine Ahnung.« Rese stemmte die Hände in die Hüften. »Wir wissen gar nichts über sie außer dem, was Michelle uns erzählt hat.«
Lance hatte Sofie die Eckdaten von Marias bisheriger Situation gegeben, dass sie mit sechs Gastarbeitern in einem winzigen Zimmer gehaust hatte, von denen jeder der Vater des Babys sein konnte. »Sie würde doch nicht dorthin zurückgehen, oder?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht haben sie sie wieder aufgenommen. Ich weiß nur, dass wir hier ein Baby haben, dessen Mutter sich aus dem Staub gemacht hat.«
Sofie blickte auf. Sie hatte Maria nur kurz gesehen und konnte sich kein Bild machen, was ihren geistigen und emotionalen Zustand betraf. Der Gedanke, dass sie ihrem Neugeborenen entrissen werden könnte, verschärfte den Schmerz. Hatte sie ihren Sohn bei Lance gelassen, damit der ihn beschützte? Konnte das, was egoistisch schien, Ausdruck eines Opfers sein, hatte sie es aus Dankbarkeit getan?
Eine bedrückte Stimmung legte sich auf das Haus, als es immer später wurde und Maria nicht zurückkam. Sofie ging mit dem Baby, das jetzt Bauchschmerzen hatte, in Marias Zimmer auf und ab. Jetzt würde Sofie in diesem Zimmer die Nacht mit dem Säugling verbringen. Weiße Organza und seidene Jasminblüten ließen den Raum so rein und makellos wirken, dass es wehtat. Unschuldig. Unbefleckt.
Vorsichtig legte sie das Baby in den weißen Stubenwagen. Sie fuhr mit dem Finger über die weiche Rundung des kleinen Köpfchens und zog dann die gelbe Decke über den Kleinen und tätschelte seinen Rücken. Die winzige Faust lag an seiner Wange und sein Mund machte im Schlaf kleine saugende Bewegungen.
Sie trat zurück und rieb sich den Rücken. Als sie in New York aufgebrochen war, hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie das hier tun würde. Lance war es nicht recht, aber Rese hatte so gar keine Erfahrung mit Babys.
Ihre eigene hatte sie sorgfältig verdrängt, doch jetzt kam sie in allen Einzelheiten zurück. Das namenlose Baby musste versorgt werden. Den ganzen Tag über hatten andere ihn auf dem Arm gehabt, waren die Herzschläge anderer an sein Ohr gedrungen und
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