Das Echo der Vergangenheit
Aber es war nie genug. Er erwartete von mir immer, dass ich noch mehr für ihn tat.«
»Wie viel Jahre warst du älter?«
»Fast drei Jahre. Aber der Altersunterschied wirkte noch größer. Er kam nach meiner Mutter, die zierlich und blond ist.« Dabei schüttelte er den Kopf. »Ich meine, so ist das mit der Genetik nun mal. Als Dad eine blasse kleine Frau geheiratet hat, war ihm da nicht bewusst, dass diese Eigenschaften sich irgendwo zeigen würden?«
Wie wäre es wohl gewesen, wenn es genau umgekehrt gewesen wäre – er der Kleine, aber ansonsten er selbst, und Jacky mit der Statur seines Vaters? »Seine Arme waren so dünn wie Zweige. Selbst mit neun Jahren noch. Und er aß nicht gut, wahrscheinlich weil er ständig Angst hatte. Nachts in unserem Zimmer kam er an mein Bett geschlichen, um mich atmen zu hören. Ich habe ihm dann immer gesagt, er solle zurückgehen, bevor die Ungeheuer seine Füße anknabberten, aber ich meinte, bevor jemand ihn hörte. Hätte Dad gewusst, dass er sich im Dunkeln fürchtete …« Er runzelte die Stirn. »Ich wollte ihn abhärten, um nicht …«
»Sein Beschützer sein zu müssen?«
»Solche Angst zu haben.« Er schluckte. »Ich wusste, was ich aushalten konnte. Aber Jacky war wie ein junger Hund, der so sehr versuchte, den anderen zu gefallen, dass am Ende alle genervt waren. Und ich hatte keine Kontrolle darüber. Ich hatte gelernt, für mich zu sorgen, aber ich wusste nicht, wie ich auch noch für ihn sorgen sollte.« Er vergrub das Gesicht in seinen Händen. »Und am Ende konnte ich es auch nicht.«
Voller Mitgefühl legte sie eine Hand auf seine Schulter. Trotz Anzugjacke und Hemd spürte er jeden einzelnen Finger von ihr. Wa-rum hatte er ihr die Hässlichkeit in seinem Innern gezeigt? War das vielleicht eine Art, eine Beziehung anzufangen? Er wandte den Kopf um. Die Straßenlaterne spendete genügend Licht, um ihre Züge zu beleuchten, aber ihre Augen lagen im Schatten. Unmöglich zu sehen, was sie dachte oder fühlte, aber ihre Berührung war sein Verderben. Er legte einen Arm um ihre Taille, beugte sich zu ihr und fand ihre Lippen.
Ihr Mund war weich und warm. Sein Kuss wurde intensiver, so wie er es sich gewünscht hatte, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Dann, ohne Vorwarnung, überwältigte ihn plötzlich der Kummer, ein Kummer und Verlust und die Angst, dass er in all den Jahren etwas hätte tun sollen, etwas anderes, mehr. Ihm wurde erst bewusst, dass die Tränen über seine Wangen strömten, als sie ihre Hand auf sein Gesicht legte und seinen Kopf an ihre Schulter zog.
Er schloss sie in die Arme und weinte leise vor sich hin. Als die Tränen nachließen, küsste er ihren Hals, ihre Haare, ihr Ohrläppchen, ihre Wange. Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie, während er spürte, dass sein Leben sich veränderte. Jacky war tot, aber er war am Leben. Matt wollte leben.
Er lehnte seine Stirn an ihre. »Ich benehme mich unmöglich.«
Fest drückte sie seine Hand. »Du musstest es rauslassen.« Inzwischen hatte die Dämmerung die Dunkelheit genug erhellt, um ihre Ernsthaftigkeit deutlich zu machen.
»Ich hatte nicht vor, hierherzukommen.«
»Das Ergebnis lässt etwas anderes vermuten.«
»Was meinst du?«
»Du bist hier.«
Er lachte kurz. »Macht es dir etwas aus?«
»Nicht allzu viel.« Sie zog einen Mundwinkel hoch.
Da dies der richtige Zeitpunkt für Ehrlichkeit zu sein schien, sagte er: »Ich muss immerzu an dich denken.« Die ganze Zeit, als er mit Becca aus gewesen war, hatte er die Gedanken an Sofie verdrängt, an das, was sie ihm erzählt hatte, daran, wie sie aussah und klang, als sie es ihm erzählte. Wie gerne er ihre Situation geändert hätte.
»Du weißt nicht mal genug, um dich eine Stunde mit mir zu beschäftigen.«
»Ich denke an all das, was ich nicht weiß.« Alles, was er wissen wollte. Er schüttelte den Kopf. Er musste schlafen. Musste aufhören zu reden. »Ich mache mich zum Narren.«
»Wann warst denn du das letzte Mal spontan und bist deinem Instinkt gefolgt?«
»Ich verlasse mich meistens auf meinen Instinkt.«
»Was andere betrifft.«
Er seufzte. »Ich sollte Diegos Fall abgeben.«
»Das kannst du nicht.« Sie zog sich zurück.
»Ich bin nicht mehr unparteiisch.«
»Du weißt, was er braucht.«
»Ich will, dass du ihn bekommst.«
Sie setzte sich mit einem Ruck auf. »Wie bitte?«
Seine Bemerkung war ausgesprochen unethisch und die ganze Situation ein einziger Interessenkonflikt, aber er nahm
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