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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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den Angriff selbst, aber sehr wohl den Schmerz und die Angst. Wie Soldaten, die an der Front waren.«
    »Vorhin in der Backstube, da sah so aus, als würde sie ein Theaterstück aufführen.«
    »In gewisser Weise hat sie das auch. Die Erinnerung war so intensiv, als würde sie die Ereignisse von damals tatsächlich noch einmal erleben«, erklärte Engrasi und sah zu Amaia. »Mein armes tapferes Mädchen. Jetzt hast du schon wieder erleiden müssen, was du damals erlitten hast.«
    »Aber …«, sagte James und sah erneut zu Amaia, die nach wie vor ihre dampfende Tasse in der Hand hielt, ohne einen Schluck genommen zu haben. »Wenn ich dich richtig verstanden habe, hat Amaia tatsächlich gedacht, sie sei in tödlicher Gefahr.«
    Engrasi nickte und hielt sich zitternd eine Hand vor den Mund.
    »Was hat ihren Anfall ausgelöst? Ich habe das bei ihr nämlich noch nie erlebt«, fragte er.
    »Da kommt alles Mögliche in Frage. Allein schon, dass sie über längere Zeit hier in Elizondo ist, dann die Backstube, die Morde an den Mädchen. Jedenfalls hat sie das, was sie vorhin nachgespielt hat, tatsächlich erlebt, als sie neun war.«
    »Stimmt das?«, fragte er Amaia leise.
    »Ja, aber ich konnte mich nicht daran erinnern«, erwiderte sie. »Was damals passiert ist, war mehr als zwanzig Jahre lang tief in meinem Gedächtnis vergraben. Vermutlich habe ich mich selber davon überzeugt, dass es überhaupt nicht stattgefunden hat.«
    James nahm ihr die volle Tasse aus der Hand, stellte sie auf dem Tisch ab, ergriff ihre Hände und sah ihr in die Augen.
    Amaia lächelte, musste aber den Blick senken, um weitersprechen zu können.
    »Meine Mutter ist mir damals in die Backstube gefolgt und hat mir mit einer stählernen Teigrolle auf den Kopf geschlagen. Und als ich bewusstlos auf dem Boden lag, hat sie noch mal zugeschlagen. Dann hat sie mich in den Backtrog gesteckt und zwei Fünfzigkilosäcke Mehl auf mich geschüttet. Meinem Vater hat sie erst Bescheid gesagt, als sie mich für tot hielt. Das ist auch der Grund, warum ich bei meiner Tante aufgewachsen bin.« Ihre Stimme klang unpersönlich, monoton.
    Ros sah ihre Schwester an und weinte still.
    »Um Gottes willen, Amaia, warum hast du mir denn nie davon erzählt?«, fragte James erschüttert.
    »Wie gesagt, ich hatte es verdrängt. Außerdem gab es neben der echten noch eine offizielle Version der Geschichte, und die habe ich so oft gehört, dass ich sie am Ende selber geglaubt habe. Es war mir peinlich, ich wollte nicht, dass du denkst …«
    »Aber wie konnte dir das denn peinlich sein! Du warst damals ein Kind, und ausgerechnet die, die dich beschützen sollte, hat dir wehgetan. So etwas Grausames habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Es tut mir wahnsinnig leid, dass man dir so was Schreckliches angetan hat, mein Schatz, aber das ist jetzt vorbei, niemand wird dir mehr wehtun.«
    »Ich fühle mich, als hätte mir jemand eine große Last von den Schultern genommen. Die Blockierung …« Plötzlich fiel ihr Duprees Bemerkung wieder ein. »Dass ich es dir nicht erzählen konnte, hat mich zusätzlich unter Stress gesetzt.«
    James schwieg eine Weile.
    »Wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte er dann.
    »Wie meinst du das?«
    »Du fühlst dich jetzt erleichtert und befreit, aber dass du gestern die Waffe gezogen hast und heute der Vorfall in der Backstube: Damit ist nicht zu spaßen.«
    »Ich weiß.«
    »Du hast die Beherrschung verloren, Amaia.«
    »Es ist doch nichts passiert.«
    »Es hätte aber was passieren können. Wie können wir sicherstellen, dass sich so was nicht wiederholt?«
    Amaia antwortete nicht. Sie löste sich aus seiner Umarmung und stand auf. James sah zu Engrasi.
    »Du bist die Expertin. Was sollen wir jetzt machen?«
    »Das, was wir gerade tun: darüber sprechen. Sie muss sich uns mitteilen, ihrer Familie, den Menschen, die sie lieben. Eine andere Therapie gibt es nicht.«
    »Und wieso erst jetzt? Wieso nicht schon damals, als sie neun war?«, fragte er, ohne seinen Ärger zu verhehlen.
    Engrasi erhob sich und ging zu Amaia, die am Kamin lehnte.
    »Weil ich gehofft hatte, dass sie es vergisst, wenn ich ihr nur genug Liebe gebe. Aber wie kann ein kleines Mädchen vergessen, was ihre eigene Mutter ihr angetan hat? Natürlich sehnt sich ein Kind danach, dass ihre Mutter sie lieb hat, ihr vor dem Einschlafen eine Geschichte vorliest und ihr einen Gutenachtkuss gibt.«
    Engrasi sprach jetzt leise, flüsterte fast, als würde das, was sie

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