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Das Echo dunkler Tage

Das Echo dunkler Tage

Titel: Das Echo dunkler Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dolores Redondo
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jemand.
    Tante Engrasi stand am Eingang und sah sie an.
    »Amaia«, rief Engrasi ihre Nichte sanft, aber bestimmt.
    Amaia kniete vor dem Backtrog auf dem Boden mit dem Gesichtsausdruck eines kleinen Kindes.
    »Amaia Salazar.«
    Sie erschrak, als hätten sie die Worte erst jetzt erreicht, zog ihre Waffe und zielte ins Leere.
    »Amaia, sieh mich an!«, befahl Engrasi.
    Amaia war wie erstarrt, schluckte Klümpchen aus Mehl und zitterte, als stünde sie nackt im Regen.
    »Amaia.«
    »Nein«, flüsterte sie. Und dann schrie sie es hinaus: »Nein!«
    »Amaia, sieh mich an!«, befahl Engrasi, als spräche sie mit einem kleinen Kind. »Was ist los, Amaia?«
    »Tante Engrasi, ich werde nicht zulassen, dass das hier passiert.«
    Ihre Stimme war jetzt eine Oktave tiefer und klang brüchig.
    »Es passiert nicht, Amaia.«
    »Doch.«
    »Nein, Amaia. Es ist passiert, als du klein warst, aber jetzt bist du eine erwachsene Frau.«
    »Ich werde nicht zulassen, dass sie mich frisst.«
    »Niemand wird dich fressen, Amaia.«
    »Ich werde es nicht zulassen.«
    »Amaia, es wird nie wieder passieren. Du bist jetzt eine erwachsene Frau, eine Polizistin, die eine Pistole hat. Niemand kann dir etwas antun.«
    Amaia senkte den Blick und schien überrascht, dass sie ihre Waffe in der Hand hielt. Plötzlich bemerkte sie auch James und Ros, die mit bleichen Gesichtern in der Tür standen. Wie in Zeitlupe ließ sie die Waffe sinken.
    Auf dem Rückweg hielt James ihre Hand und ließ sie auch nicht los, als sie wieder zu Hause waren. Still saß er neben ihr, während Engrasi und Ros in der Küche Lindenblütentee kochten. Auch Amaia schwieg. Gleichzeitig musterte sie das Gesicht ihres Mannes, der angespannt lächelte, wie ein besorgter Vater, dessen Kind verletzt im Krankenhaus liegt. Aber es war ihr egal. Ein biblischer Friede erfüllte sie, ein Gefühl des Wiedergeborenseins.
    Ros stellte die Tassen auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa und machte Feuer im Kamin. Auch Engrasi kam ins Wohnzimmer, setzte sich ihnen gegenüber und nahm den Deckel von den Tassen, aus denen Dampf aufstieg und den unangenehmen Geruch der Lindenblüten im ganzen Raum verteilte.
    James sah Engrasi in die Augen, nickte, als wägte er die Situation ab.
    »Okay, ich glaube, es ist an der Zeit, dass ihr mir alles erzählt.«
    »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, antwortete Engrasi und zog ihren Morgenmantel enger.
    »Vielleicht erklärst du mir erst mal, was in der Backstube passiert ist.«
    »Was du da gesehen hast, war eine schlimme Episode von posttraumatischem Stress.«
    »Posttraumatischer Stress? Wie bei Soldaten, die nach Kriegseinsätzen an paranoiden Anfällen leiden?«
    »Genau, nur dass es jeden treffen kann, der irgendwann in tödlicher Gefahr war.«
    »Amaia war in tödlicher Gefahr?«
    »Ja.«
    »Wann? Bei ihrer Arbeit?«
    »Nein, bei ihrer Arbeit ist ihr zum Glück noch nie was passiert.«
    James sah zu Amaia, die mit gesenktem Kopf dasaß, den Mund zu einem leichten Lächeln verzogen.
    Engrasi rief sich ins Gedächtnis, was sie in ihrem Psychologiestudium gelernt hatte. Immer wieder war sie es durchgegangen, obwohl sie gehofft hatte, es niemals anwenden zu müssen.
    »Posttraumatischer Stress ist wie ein Schläfer: Er bleibt über Monate, manchmal auch Jahre nach dem traumatisierenden Erlebnis unauffällig. Er ist ein Schutzmechanismus, ein Alarmsystem, das Gefahren früh erkennt und dafür sorgt, dass man nicht wieder in eine ähnliche Situation gerät. Wenn zum Beispiel eine Frau auf einer dunklen Landstraße im Auto vergewaltigt wird, dann ist es nur natürlich, dass ihr ähnliche Situationen – nachts, im Freien, in einem dunklen Auto – Unbehagen bereiten, dass sie Angst bekommt und sich zu schützen versucht.«
    »Das ist doch klar«, befand Ros.
    »Bis zu einem gewissen Punkt. Aber posttraumatischer Stress ist wie ein allergischer Schock: Er steht in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Bedrohung. Das ist, als würde eine Frau sofort ihr Pfefferspray zücken, wenn sie Autoleder riecht oder nachts eine Eule schreien hört.«
    »Oder ihre Pistole«, warf James ein und sah dabei Amaia an.
    »Menschen, die an dieser Art von Stress leiden, befinden sich dauernd im Alarmzustand. Sie haben einen leichten Schlaf und häufig Albträume, sind reizbar und meinen ständig, sich verteidigen zu müssen. Weil sie sich tatsächlich angegriffen glauben, neigen sie zu Überreaktionen. Wieder und wieder durchleben sie die traumatisierende Situation, zwar nicht

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