Das Echo dunkler Tage
und Schrecken zu versetzen, wie damals, als sie ein kleines Mädchen war. Amaia wusste, dass sie kein kleines Mädchen mehr war, konnte aber trotzdem nichts tun gegen die Panik, die sich auf sie legte wie eine schwere Steinplatte. Das kleine Mädchen in ihr schrie, sie solle die Augen nicht öffnen. Nicht öffnen!
Sie wusste, dass es sich bereits über sie beugte wie ein Vampir, der sich nicht von Blut nährte, sondern vom Atem. Wenn sie die Augen jetzt nicht öffnete, würde es ihr die Luft nehmen, spöttisch grinsen und sie fressen.
Sie schlug die Augen auf, erblickte sie und schrie.
Auch James schrie nun, wie von fern, und draußen lief jemand barfuß den Flur entlang.
Obwohl sie vor Angst außer sich war, sprang sie aus dem Bett, zog taumelnd Hose und Sweatshirt an, nahm ihre Pistole und lief die Treppe hinunter. Sie wollte ihre Angst loswerden, ein für alle Mal. Sie machte kein Licht an, weil sie genau wusste, wo sie suchen musste. Das Kaminfeuer war erloschen, aber der Marmorsims strahlte noch Wärme ab. Sie tastete nach dem Holzkästchen, das immer dort stand, und durchwühlte den Krimskrams, der sich darin angesammelt hatte. Als sie auf die Schnur stieß, zog sie so ruckartig daran, dass mehrere Sachen herausfielen und klappernd auf dem Boden landeten.
»Amaia«, rief James. Sie drehte sich zur Treppe um, auf der Engrasi gerade Licht angemacht hatte. Die beiden sahen sie an, entsetzt, verwirrt, fragend. Wortlos ging sie an ihnen vorbei zur Tür, verließ das Haus und rannte los. Den Schlüssel hielt sie in der geballten Faust, stellte fest, dass die Nylonschnur, an die ihr Vater ihn gebunden hatte, immer noch so weich war wie damals an ihrem neunten Geburtstag.
Die Tür zur Backstube lag fast vollständig im Dunkeln. Das orangefarbene, fast weihnachtliche Licht der alten Straßenlaterne warf nur einen blassen Schimmer auf den Gehweg. Mit dem Zeigefinger ertastete sie das Schloss und steckte den Schlüssel hinein. Der Duft nach Mehl und Butter versetzte sie zurück in ihre Kindheit, an einen ganz bestimmten Abend. Sie machte die Tür zu, streckte den Arm nach oben und suchte den Schalter. Er war nicht mehr da.
Sie brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, dass sie den Arm nicht mehr ausstrecken musste. Kaum hatte sie das Licht angemacht, begann sie zu zittern. Zäh klebte der Speichel an ihrem Gaumen, wie eine große Kugel aus Brotkrumen, die sich nicht auflösen wollte, die sie aber auch nicht schlucken konnte. Sie ging zu den Kanistern, die in derselben Ecke wie damals standen. Wie gebannt starrte sie sie an, atmete immer schneller aus Angst vor dem, was gleich passieren würde.
»Was machst du hier?«
Die Frage ertönte deutlich hörbar in ihrem Kopf.
Tränen traten ihr in die Augen und nahmen ihr die Sicht. Ihre Netzhaut brannte. Gleichzeitig war ihr so kalt, dass sie immer stärker zitterte. Langsam drehte sie sich um und ging zu dem Tisch. Ihre Panik war jetzt so groß, dass sie sich regelrecht schüttelte. Trotzdem streckte sie die Hand aus, bis ihre Finger die glatte Tischoberfläche berührten. Noch immer hallte die Stimme ihrer Mutter laut in ihrem Kopf. In der Spüle lag eine stählerne Teigrolle, vom Wasserhahn tropfte es rhythmisch in das Becken.
»Du hast mich nicht lieb.«
Sie wusste, dass sie flüchten sollte, weil sie sonst sterben würde. Aber als sie sich zur Tür wandte, war sie wie gelähmt. Es war zwecklos, sie würde sterben. Aber das Mädchen in ihr wehrte sich dagegen. Sie drehte sich um und hob die Hand, um den tödlichen Schlag abzuwehren, fiel hin, spürte, wie ihr Herz fast platzte vor Angst, dann aussetzte. Da traf sie der zweite Schlag, aber er tat nicht mehr weh. Der Tunnel um sie herum löste sich auf, und sie konnte wieder klar sehen, als hätte jemand ihre Augen sauber gespült.
Sie lehnte noch immer am Tisch, beobachtete sie. Amaia hörte, wie sie keuchte und dann erleichtert seufzte; wie sie den Hahn aufdrehte und die Teigrolle wusch; wie sie zu ihr kam, sich neben sie kniete. Sie sah, wie sie sich über sie beugte und ihr Gesicht musterte, sah ihre kalten Augen, ihren erstarrten Mund. Dann beugte sie sich noch näher herab, berührte sie fast, als bereute sie ihre Tat und wollte sie küssen. Der Kuss einer Mutter, den sie nie erhalten hatte. Sie öffnete den Mund, leckte das Blut, das langsam aus der Wunde quoll und ihr übers Gesicht lief. Sie lächelte, als sie aufstand, lächelte immer noch, als sie sie hochhob und im Mehltrog begrub.
»Amaia«, rief
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